Im Schattenlicht

Staatslinke Parteien und soziale Basisbewegungen in Lateinamerika betreiben volkstümelnde platte Anti-Gringo-Rhetorik. von gaston kirsche

In den kargen Bergen wehten mexikanische Fahnen, als der örtliche Organisator Hermelindo Pérez vorige Woche in Ixtepec im mexikanischen Bundesstaat Puebla vor rund 200 indegenisierten KleinbäuerInnen eine Veranstaltung eröffnete: »Unser heutiger Kampf soll sich nicht auf den Kampf von oben konzentrieren, sondern auf die Einheit des totonakischen Volkes. Die Parteien Pri, Pan, PRD und PT spielen sich dort oben gegenseitig die Bälle zu, das ist die Macht der Schweinerei. Wir haben eine andere Macht, eine Macht des Einbeziehens, des Teilens, eine würdige Macht, eine Kraft des Volkes.« Die Enttäuschung über die parlamentarische Politik mündet in eine romantische Rückbesinnung auf ein indigenes Volk der Totonaken. Zu Beginn des Jahres war Subcomandante Marcos, »Delegierter null« des zapatistischen EZLN, im Rahmen der »Anderen Kampagne« zu einer Rundreise zu Basisbewegungen quer durch Mexiko aufgebrochen. Nun sprach er in Ixtepec: »Frag die Totonaken, ob sie diese Erde lieben, diesen Boden, der Mexiko genannt wird. Wenn sie mit ›Ja‹ antworten, aus ihrer Geschichte als indigenes Volk wie wir, mögen sie sich uns anschließen. Nicht nur uns Zapatisten, sondern auch den Arbeitern, Bauern, die keine Indigenen sind, Frauen, all jenen, die arbeiten in diesem Land und die wir fragen, ob sie nicht für unser Vaterland kämpfen wollen, das Mexiko ist.«

Die ganze Ambivalenz der Programmatik des EZLN wurde einmal mehr deutlich: Das Changieren zwischen einem antirassistischen Kampf gegen den Ausschluss aus dem mexikanischen Sozialstaat und einer indigenistischen Identitätspolitik, welche kleine Völker als po­litische Subjekte in der großen Nation beschwört. In der »sechsten Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald«, der programmatischen Schrift des EZLN, welche die »Andere Kampagne« inhaltlich begründete, wurde die notwendige Kritik der Privatisierungen mit nationalen Phrasen zugetextet: Mexiko sei »ein Vergnügungspark für die Reichen der Welt, und die Mexikaner und Mexikanerinnen sollen ihre Diener sein, davon abhängig, was ihnen angeboten wird; ein armseliges Leben, ohne Wurzeln, ohne Kultur, ohne Vaterland eben. Das heißt, dass die Neoliberalen Mexiko töten wollen, unsere mexikanische Heimat.«

Miriam Lang beschrieb die »Andere Kampagne« in der letzten Jungle World – allerdings ohne die Vaterlandsrhetorik und den damit einhergehenden verkürzten Antikapitalismus zu kritisieren. Sicher ist es richtig und notwendig, den Neoliberalismus in Frage zu stellen, die für die Unterklassen desaströse Politik der Privatisierung und Deregulierung und den Sozialabbau. Dabei lohnt auch ein Blick auf Costa Rica, das als letztes mittelamerikanisches Land noch nicht dem Freihandelsabkommen mit den USA beigetreten ist. Am 5. Februar waren hier Wahlen, und der Präsidentschaftskandidat der sozialdemokratischen PLN, Óscar Arias, lag mit 0,5 Prozent so knapp vor dem Konkurrenten von der Linksabspaltung PAC, Ottón Solís, dass erst diese Woche das Ergebnis verkündet wird. Während Arias für die schnelle Ratifizierung des Freihandelsabkommens eintritt, ist Solís dagegen. Es wäre ein ermutigendes Signal, wenn Costa Rica, das über einen ausgebauten Sozialstaat und einen funktionierenden Binnenmarkt verfügt, dem Abkommen nicht beitritt. Andernfalls droht im Land ein massiver Sozialabbau.

Im nachkolonialen Machtgefüge in Bolivien ist es hingegen ein Signal gegen den Rassismus, wenn ein indigenisierter Koka-Bauer die Präsidentenschärpe umgehängt bekommt. In ihren Antrittsreden benannten Evo Morales und sein Vizepräsident Alvaro García das, worüber zu schweigen bisher Konsens war: den Ausschluss der Jahrhunderte lang diskriminierten, indigenisierten kleinbäuerlichen und proletarischen Bevölkerungsmehrheit aus Staat und Gesellschaft. In weiten Teiles des Landes, etwa im kargen Hochland, dort, wo ein Großteil der indigenisierten Unterklassen lebt, ist der Staat bisher bestenfalls mit rudimentär ausgestatteten Elementarschulen und Polizeiposten präsent. Das Land könne auf Basis des Rohstoffreichtums entwickelt werden, so Morales: »Wenn wir es intelligent anstellen und das Vaterland lieben, wird Bolivien besser sein als die Schweiz.« Dass seine Partei, die Bewegung zum Sozialismus, eher ein Zusammenschluss von sozialen Bewegungen ist, wurde – neben deren Nationaltümelei – ebenfalls deutlich: »Dieses Parlament wird die Armee der nationalen Befreiung sein (...). Wenn das hier nicht getan wird, werden es die sozialen Bewegungen tun.«

Vizepräsident Alvaro García saß bis 1995 im Gefängnis, weil er in den achtziger Jahren in der mittlerweile aufgelösten indigenistischen EGTK, der Guerilla-Armee Túpac Katari, gekämpft hat. Es ist bekannt, dass er diese Zeit nicht bereut: »Nur meine Methoden sind heute anders.« Mit Schlips und Anzug zeigte er sich bei seiner Amtseinführung als Meister des geschliffenen Wortes: »Jetzt sind die indigenen Völker an der Reihe, die ehrenwertesten, die wahren Vertreter unseres Vaterlandes, die Leitung der Nation einzunehmen und uns auf einen Weg des Wohlstands zu führen, einen Weg der Einheit und der nationalen Integration.«

Im Schlusssatz seiner Rede wurde einmal mehr das strategische Wechselspiel zwischen indigenistischer Identitätspolitik und dem antirassistischen Einsatz für das Recht der Unterklassen auf Teilhabe in Staat und Gesellschaft deutlich: »Mit dem Kopf der indigenen Völker wird Bolivien groß sein, weil Bolivien alles ist, was wir haben, und Bolivien sind wir alle.« Die Betonung eines starken Staats hat dabei weniger mit Autoritarismus zu tun als damit, dass die Unterklassen von den sozialen Leistungen des Staates ausgeschlossen waren: »Wir brauchen einen starken Staat, der alle schützt, vor allem die Verletzlichsten, die Vergessenen.«

Alvaro García hat dafür das Konzept eines »andinen Kapitalismus« entwickelt: starker Staatssektor, Förderung von Genossenschaften und kleineren Betrieben. Der »andine Kapitalismus« bricht selbstredend nicht mit der Logik kapitalistischer Vergesellschaftung. Die parlamentarische Linke kann in Bolivien etwas Reichtum umverteilen und Zugang zu staatlichen Leistungen und Ressourcen für bisher davon Ausgeschlossene anstreben. Mehr nicht, aber das ist in Bolivien wie auch in Venezuela schon eine ganze Menge.

Eine Entgegensetzung von »Einfachheit und Radikalität« sozialer Bewegungen kontra Neoliberalismus und Korruption von Regierungslinken, die eh nur Teil der Oligarchie seien, basiert auf einer verkürzten Staats- und Kapitalismuskritik - so auch bei Andrés Pérez González (Jungle World, 6/06). In Nicaragua etwa wird zu Recht Kritik an NGO geübt. Die Sandinistin Sofía Montenegro schrieb dazu, die Repräsentation der NGO mit ihren Hilfsgeldern habe mit ihrer Arbeit nicht versucht, soziale Subjekte zu bilden, sondern soziale Klienten zu gewinnen, und daher eine fragmentierte und konkurrierende Repräsentation hervorgebracht. Der Kapitalismus mit seinem Zwang, sich zu verkaufen, wirkt eben auch in NGO und Basisgruppen hinein.

Der Staat als verdinglichtes gesellschaftliches Kräfteverhältnis ist für Linke ein schwieriges Terrain. Parlamentsmehrheiten spiegeln nicht den entscheidenden Teil der Machtverhältnisse wider. Die Eroberung der Staatsmacht ist keine Garantie für eine erfolgreiche soziale Revolution. Eine Ausnahme ist die kubanische Revolution von 1959, weil damals im Bündnis mit der Sowjetunion noch eine eigenständige Nationalökonomie aufgebaut werden konnte. In Venezuela steht mit der Armee immerhin der Machtapparat auf Seiten des Präsidenten Hugo Chávez.

Wenn die basisorientierte Linke aber mit der Verherrlichung von Nation und einem auf Anti-Gringo-Positionen verkürzten Antikapitalismus nicht bricht, bekommt ihr Emanzipationsbestreben eine schlimme Schlagseite, so gut ihre Staatskritik auch sein mag. Wo soziale Bewegungen sich mit volkstümelnden Vorstellungen an Regierungen beteiligen, sind Opportunismus und Konfusion meist nicht weit. Unsinnig ist es, links und rechts als Kategorien zu verabschieden und durch autoritär versus libertär zu ersetzen – wie es Andrés Pérez González tut und so bei einer pauschalen Verdammung Kubas landet (Jungle World, 4/06).

Notwendig wäre es, sich die ökonomischen Rahmenbedingungen zu vergegenwärtigen, in denen sich linke Bewegungen und Regierungen heute abmühen. Linke haben gegenwärtig nur zwei Alternativen, auf die postfordistische Reorganisation des Weltmarktes und den Wegfall der Sowjet­union als alternativem Wirtschaftsmodell zu reagieren: Sie können sich für das Mitkonkurrieren entscheiden, für das gegenseitige Unterbieten von Peripherie-Staaten in den Ausbeutungsbedingungen, bei der Schaffung von Freihandelszonen und anderem mehr. Sie können aber auch von der fordistischen Illusion Abstand nehmen, wonach mit der Er­oberung des Staatsapparats der Kapitalismus überhaupt abgeschafft oder dessen Macht gebändigt werden könne und statt dessen auf eine Gegenmacht von unten setzen.

Gegen die kapitalistische Vergesellschaftung zu handeln, heißt unter den heutigen Bedingungen, die Selbstorganisierung der Ausgebeuteten voranzubringen und mit allen Herrschaftsideologien und -verhältnissen zu brechen: Befreiung statt Nation, Kapitalismus und Patriarchat. Eine radikale Linke kann sich nur unabhängig von staatlicher Alimentierung entwickeln. Und genau das versucht beispielhaft die »Andere Kampagne« des EZLN. Trotzdem gibt es keinen Grund, den EZLN nicht da zu kritisieren, wo er in dieselben Fallen tappt wie linke Regierungsparteien. Das Motorrad, mit dem er durch Mexiko zu den Versammlungen reist, hat Marcos »Sombraluz« genannt: Schattenlicht. Warum so tun, als ob der EZLN das reine Licht der Erkenntnis verbreitet? Sein Projekt verdient eine ernsthafte Auseinandersetzung ohne Beschönigung.