Mein Berlinale-Preis

Die Filmfestspiele sind vorbei. dietrich kuhlbrodt lobt und tadelt und verteilt die Bären neu

Und wieder eine Unterrichtsstunde, eine doppelte. Auf der Berlinale wird ein Heldenleben nachgespielt: mal eine manische Untersuchungsrichterin (Isabelle Huppert), mal eine naive Bondagekünstlerin (Bettie Page), mal ein lustiger Hassprediger (Iman Mohammed Fazazi), mal ein schräger Schriftsteller (Truman Capote). Sehr interessant, die legendären Helden wieder zu sehen, besonders als Erstinformation für die Jungsemester. Für die Volkshochschule kommt es nicht darauf an, wie kunstfertig die Botschaften vermittelt werden. Es geht um den Inhalt, und ästhetische Ambitionen sind verfehlt. Sie stören.

Ich will da auch nicht stören, wenn ich all die Begeisterten sehe, die aus einem total langweiligen und vollbekloppten Film rauskommen. Als Filmkritiker bin ich in der Informationsveranstaltung über »The Notorious Bettie Page« fehl am Platz. Immerhin bin ich wegen des interessanten Lehrstoffes gern bis zum Schluss geblieben. Bloß, ne, ich sags nicht. Lassen wir es dabei, dass das Bondage-Model von damals heute eine Heldin ist. Nein: eine Heilige. Schluss ist mit dem Posieren, und sie kehrt reumütig in den Schoß der Kirche zurück. Züchtig nimmt sie Platz unter den Gläubigen, sechste Reihe links am Gang, und dann die Orgel.

Als Heilige endet auch Michaela Klingler in der Kirche. Jedenfalls in dem bayerischen Film »Requiem« von Hans-Christian Schmid. Die Pädagogikstudentin wird vom Erstsemesterkollegen – ich verfluche ihn hiermit – statt in die Klinik ins verfrommte Elternhaus gefahren, obwohl im dörflichen Kinderzimmer epileptische Anfälle fachgerecht nicht behandelt werden können, denn es ist ja keine Krankheit, sondern Besessenheit. Die Dämonen! In den US-Filmen – »Der Exorzist« und sein Remake – kriegten wir eine Wahnsinnswut auf die bigotten Klerikalen im Bibelgürtel, die mit bischöflicher Erlaubnis der Kranken erst die Dämonen und dann das Leben austrieben. – Im bayerischen Film (Bavaria) wird uns das Austreibungsmassaker erspart, dafür wird uns eingeredet, das Opfer habe sich ja sowas von freiwillig der Austreibungsprozedur unterworfen, weil sie ja gern eine Heilige werden wollte. Was sie schließlich, wie uns dürre Schlusstitel unterrichten, auch geworden ist.

Hans-Christian Schmid, du Bayer, shame on you. »Sie starb an Entkräftung«, informierst du. Einfach so. Und? Okay? Heilig?! – Scheiß drauf. Heute würden Eltern, deren Kind im Haus »an Entkräftung« stirbt, vor dem Kadi landen, und der Sozialdienst, der nicht nachgeguckt hat, obendrein. Aber in Schmids Erbauungstraktat ist das alles Gottes Segen, denn der Herr Bischof hat das, was Ermordung ist, gnädigst genehmigt. – Die, die dem Film einen Preis gaben, sollen in der Hölle schmoren. Und äh, ästhetisch einwandfrei gemacht ist »Requiem« schon. Und jetzt bin ich es, dem das gepriesene Schauspiel (Sandra Hüller) egal ist. Weil ich wütend bin und weil Emotionen ein tolles Gefühl sind.

Ich verlass jetzt kurz, hoffe ich, mein Helden- und Heiligenleben, um auf meine Wahnsinnswut zu kom­men, die Michael Winterbottom und Mat White­cross geschürt haben. »The Road to Guantanamo« ist eine einzige Hasspredigt, und ich hasse mit, was die Militärclique in den USA an Terrorexorzismus anrichtet. Der Bibelgürtel an der Macht, und mit mittelalterlicher Folter kennt Bayern sich bestens aus. Ja, wir waren hier schon längst Experten, und so ist es kein Wunder, dass der Bundesgeneralstaatsanwalt Nehm gegen Bush und Konsorten, die den Angriffskrieg gegen den Irak vorbereiteten, nicht ermitteln will, auch nicht gegen deutsche Helfershelfer. – Sorry, ich komme nicht vom Thema ab, es ist mein Thema, schon vor drei Jahren habe ich meine Eigenschaften als Ex-Staatsanwalt aktiviert und im Roten Salon der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz gegen die deutsche Justiz agitiert, die die Kriegsverbrecher von heute begünstigt.

Barbara Schweizerhof mokierte sich in der taz über »schmissig nachgestellte Szenen von Krieg, Gefangenschaft und Folter«. – Sie hat völlig Recht, aber überhaupt kein Gefühl.

Wie versprochen, zurück zum Helden­thema. In den USA, wir kennen und lieben das oder nicht, stehen Helden gern vor Gericht, und vom Heldentum müssen bekanntlich nicht die Richter, sondern die Geschworenen überzeugt werden. Wie macht man das mit Gefühl? Der gute als Sidney Lumet (»Die zwölf Geschworenen«) inszeniert in »Find Me Guilty« den legendären Mafia-Prozess von 1987/88 nach. Die New Yorker Richter verhandeln gegen 20 Mitglieder des Luccese-Clans. Einer davon ist unser Held, Held sowieso schon unter dem Namen Vin Diesel (»xXx-TriplX«), jetzt aber in der Rolle des DiNorscio, der sich als einziger selbst verteidigt – und eine Show hinlegt, die nicht nur die Geschworenen glatt umhaut. Er hat das Gefühl, wie man Menschen gewinnt und wie es egal wird, dass man eigentlich ja doch ein ziemlicher Gangster ist.

Und jetzt meine Kollegenschelte. Christian Schröder sah sich im Tagesspiegel in einem überlangen, uninspiriert abgefilmten Theaterstück. – Wieder gut getroffen! Genauso ist es! Aber ich hatte es auf den Informationsveranstaltungen der Berlinale ja schon längst aufgegeben, als Filmkritiker zu beckmessern. Dann hätte ich zwar recht gehabt, aber was solls. Lasse ich die Heldensaga vom voll sympathischen Großverbrecher Jackie Dee Di Nor­scio über mich ergehen, komme ich mit glänzenden Augen aus dem Kino raus und fühl mich gut. – Noch Fragen?

Auch Großmeister Claude Chabrol inszenierte ein Heldenleben nach: das der Untersuchungsrichterin Eva Joly im Korruptionsskandal von Elf-Aquitaine zu Beginn der neunziger Jahre, in der BRD als Skandal bei der Abwicklung der DDR bes­tens bekannt. Isabelle Huppert also legt sich mit einer Bessessenheit ins Zeug, dass ihr in Bayern die Dämonen gründlich ausgetrieben worden wären. Wir sind aber im Strafjustizgebäude auf der Seine-Insel in Paris, und der korrupte Konzernpräsident kommt mitsamt dem Rotwein trinkenden und dicke Zigarren rauchenden Männerpakt von Konzernpräsident, Politiker, Lob­byisten und nicht zuletzt von Justizpräsident und Vorgesetzten vor der besessenen Untersuchungsrichterin in die Bredouille. Die Huppert wird nicht in kirchlichem Verlies oder in ihrem Kinderzimmerchen umgebracht, sondern ganz im Gegenteil groß befördert. Klasse Dienstzimmer jetzt. Tolle Bodyguards, und was an Entkräftung stirbt, ist nicht sie, sondern die Untersuchung.

Ein subtiles Kammerspiel, eine großartige schauspielerische Leistung. Hoch Isabelle Huppert. Der Filmkritiker ist mit sich eins. Aber zum wütend- oder traurig- oder lustigwerden ist das nichts. Information abgehakt. Ende.

Höchste Zeit, von den Lehrveranstaltungen wegzukommen. Wie wärs, mal nicht auf große Vorbilder zurückzugucken, sondern sich lieber umzugucken. Was läuft?

Eine Exklusivmeldung: Meinen Preis für die 56. Berlinale vergebe ich an den polnischen Film »Komornik«. Er spielt im schlesischen Waldenburg, das auf polnisch wie im Deutschen ausgesprochen wird. Wal.Den.Burg. Manche Häuser sind renoviert, alle anderen sehen aus wie vor 1989. Ein manischer Untersuchungsrichter, äh, Gerichtsvollzieher verklebt Pfandsiegel. Bohme ist sein Name. Andrzej Chyra ist genauso gut wie die Huppert, aber seine Rolle ist fiktiv. Wir müssen nichts lernen. Wir sehen ihm zu. Voll krass, wie er in die Kleine-Leute-Wohnungen eindringt und in die waldenburgischen Großbetriebe. Ein Maniac. Nach dem Film fragte ich im Foyer, ob er in Polen ein Star sei. »A rising one«, versicherte er mir und guckte frech. – Ich kann das nicht checken, weil ich von diesem Film und vom neuen polnischen Kino nichts weiß. Als Filmkritiker bin ich da echt schlecht. Sind doch nur 60 Kilometer bis zur polnischen graniza! Aber nun, surprise surprise, freute ich mich über die Wahnsinnswendungen des Films, über das moralische Abkippen. Plötzlich ist unser Gegenwartsheld erleuchtet. Eine Epiphanie! Er bringt die gepfändete Stand­uhr zurück. »Danke, die einzige Erinnerung an die Oma«, hauchen die Polen. Kaum ist unser guter Mann weg, sagen sie: »Naja, eigentlich ist sie gestohlen. Sie gehörte ja Deutschen, die damals vertrieben wurden.« – Uff, sowas kann kein deut­scher Film sagen. Eigentlich auch kaum ein polnischer. Aber er sagt es. Nun fang mal politisch damit was an.

Bevor ich das tue, lob ich mir die antiheldischen deutschen Filme, die im Alltag herummuddeln. Das sind Filme nicht zum Lernen, sondern zum Zusehen, Zuhören und Miterleben: ein brandenburger Dorf in »Sehnsucht« von Valerie Grisebach, Neu­kölln in »Knallhart« von Detlev Buck, die Mörderskins von Potzlow (wieder Brandenburg) in »Der Kick« von Andres Veiel, das Beziehungstraining in »Komm näher« von Vanessa Jopp (schade, mein Berlinale-Preis ist schon vergeben) und das unprätentiöse »schöner leben« von Markus Herling: Ein Zufallsgenerator würde nicht überraschender (und besser) den Alltag aus dem Trott bringen. Berlin, Herrmannplatz, allein erziehend, schlimm das oder gar nicht, es gibt dicke Taxifahrer, epileptische Polizisten, räuberische Mütter und die Wundertüte Zukunft. Herzerwärmend, schöner leben. Ein gutes Gefühl.