100 Jahre CDU

In der CDU hat die Debatte über ein neues Grundsatzprogramm begonnen. Nationalkonservative, Neoliberale und Christlich-Soziale sollen sich darin wiederfinden. von richard gebhardt

Merkel-Mania« in den Umfragen, beste Aussichten bei den kommenden Landtagswahlen, dazu ein Lob vom DGB-Vorsitzenden Michael Sommer – die ersten 100 Tage der großen Koalition sind für die CDU eine Erfolgsgeschichte. Auf den ersten Blick könnten die Bedingungen nicht günstiger sein für eine Grundsatzdebatte der Christdemokraten, die in der vergangenen Woche in Berlin mit der »Wertekonferenz« unter dem Titel »Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit« eröffnet wurde. »Freiheit und Solidarität, das ist für uns kein unüberwindbares Phänomen«, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel vor den Delegierten des »Kleinen Parteitags«. Die CDU-Vorsitzende erkor Solidarität zu den »wichtigsten patriotischen Fähigkeiten« und richtete damit ein beruhigendes Wort an jene Parteimitglieder, die wie der Vorsitzende der Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU, Josef Schlarmann, vor einer »Sozialdemokratisierung« der Union warnen.

Der Appell an die nationale Solidarität zählt zu den Leitmotiven der auf zwei Jahre angelegten Debatte, die im November 2007 mit der Verabschiedung eines neuen Grundsatzprogramms abgeschlos­sen werden soll. Einen Vorgeschmack auf das Ni­veau der künftigen Diskussion gab die Managerschelte des wirtschaftspolitischen Sprechers der Unionsfraktion im Bundestag, Laurenz Meyer. »Wenn man manche Äußerung über geplanten Personalabbau verfolgt, kann man den Eindruck gewinnen, dass ein Teil der Manager als Folge der Globalisierung gedanklich ›heimatlos‹ geworden ist«, zitiert die Netzeitung den einstigen CDU-Generalsekretär.

Meyers volkstümliche Klage über das vaterlandslose Kapital weist in das Zentrum der Programmdebatte der Union. Die bisherige neo­li­berale Ausrichtung und der technokratische Wahlkampf der Partei gelten als Grund für das unerwartet schlechte Ergebnis der CDU/CSU bei den Bundestagswahlen. Zu Wort melden sich nicht nur die im Wahlkampf an den Rand gedrängten Vertreter des Arbeitnehmerflügels der Union wie der nordrhein-westfälische Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Karl-Josef Laumann (CDU). Auch Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust empfahl eine »Sozialdemokratisierung« der CDU. Von Beust entgegnete den liberal-konservativen Mahnern, dass »wir den Staat brauchen, um die Risiken der Globalisierung zu mindern«.

Diese Forderung nimmt eine vorherrschende Stimmung auf: Einem nicht zu unterschätzenden Teil der Wählerschaft der CDU gilt die Androhung von Massenentlassungen bei gleichzeitigen Rekord­gewinnen als das wahre Gesicht der ­Globalisierung. Nicht wenige Anhänger der Union sind selbst von Arbeitslosigkeit und Rentenkürzung betroffen. Diese strukturkonservative, der Reformeuphorie eines Friedrich Merz skeptisch gegenüberstehende Klientel hatte der Vorsitzende der Wertekommis­sion, Christoph Böhr, wohl im Auge, als er das »christliche Menschenbild« zur Leitkultur erhob und forderte, Langzeitarbeitslose dürften nicht nur auf Ein-Euro-Jobs, Hartz IV oder ehrenamtliche Tätigkeit verwiesen werden. Christliche Leitbilder, Sonntagsreden über die »Würde des Menschen« und tröstende Worte als Tünche – diese Symbolpolitik ist gerade für das konfessionell stark gebundene Stammmilieu der Union so wichtig wie konkrete Programme.

Jenseits aller Umfrageergebnisse gibt die beginnende Grundsatzdebatte einen Einblick in den konkreten Zustand der Partei und ihrer Strömungen, die vom liberalen Marktwirtschaftler, vom christlichen Sozialpolitiker bis hin zum bürgerlichen Konservativen Einfluss auf die Debatte nehmen wollen. Das Hamburger Grundsatzprogramm aus dem Jahr 1994 wurde noch unter dem Eindruck der Wiedervereinigung verfasst. Mit der deutschen Einheit verlor der alte nationalkonservative Flügel sein Lebensthema, für die anhaltende politische Defensive wurde der Zeitgeist verantwortlich gemacht.

Der Nachwuchs der Unionsrechten, vertreten durch den Vorsitzenden der Jungen Union, Philipp Mißfelder, moniert in der Leipziger Volkszeitung, dass in den vergangenen Jahren die geistig-moralische Wende, die Debatten um Leitkultur und Patriotismus »im Leeren verklungen« seien. Doch auch er stellt nicht den »Kampf der Kulturen« in den Mittelpunkt, sondern erklärt die Senkung der Arbeitslosigkeit zum Erfolgsindikator für die Partei.

Es wäre verfehlt, die Union schon jetzt als klare Gewinnerin in der großen Koalition zu sehen. Während die SPD mit ihrer Zustimmung zur »Merkel-Steuer«, also zur Mehrwertsteuererhöhung, und Franz Münteferings Ankündigung der »Rente mit 67« bei den Wählern weiter an Sympathie einbüßt, verliert die Union beim Einzelhandels- und Gastronomieverband und im Wirtschaftsteil der bürgerlichen Presse an Reputation. Die Unterstützung der Anhebung des pauschalen Abgabesatzes bei Minijobs auf 30 Prozent, den die Unternehmer zahlen, bescherte ihr in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Rüge als »christliche Jobvernichter«.

Deutlicher als in der großen Koalition dürften in der Wertedebatte die strategischen Schwierigkeiten der Union zum Ausdruck kommen. Eine Volkspartei, deren Generalsekretär Roland Pofalla im Bund wieder Wahlergebnisse von »40 plus X« anvisiert, kann in einer vom Pluralismus geprägten Gesellschaft kein verbindliches Leitbild verordnen, sondern muss unterschiedliche Klassen und lebensweltliche Milieus bedienen. So umwirbt etwa der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Michael Glos von der Schwesterpartei CSU, mit seiner Forderung nach deutlichen Lohnerhöhungen und einer weiteren »Lockerung« des Kündigungsschutzes Lohnabhängige und Unternehmer gleichzeitig.

In der Grundsatzdebatte, die gleichzeitig in der CSU geführt wird, beschwören sechs bayerische Bundestagsabgeordnete unter dem Titel »Junge CSU für traditionelles Familienbild« das Leitbild von Ehe und Familie. Single-Haushalte und Patchwork-Familien spiegelten nicht die »tatsächliche Lebenssehnsucht vieler Menschen«, glauben die Unterzeichner. Ein genauer Blick in den Aufruf zeigt aber, dass auch die christlich-sozialen Parlamentarier von der Unmöglichkeit universell gültiger Lebensentwürfe wissen, etwa wenn es heißt, alle Lebensmodelle hätten »ihren Platz in der Gesellschaft«.

Interventionen dieser Art dienen als Signal an die eigene ländlich-konfessionell geprägte Stammwählerschaft. Dort, wo CDU und CSU vergleichsweise geringen Zuspruch haben – in den großstädtischen und akademischen Mil­ieus, bei jungen und allein erziehenden Frauen –, wären sie mit einem Leitbild chancenlos, das zudem noch nicht mal in der eigenen »Frauenunion« besonderen Beifall findet. Insofern wird die Programmdebatte, der gegenwärtigen Harmonie zum Trotz, Konflikte freilegen, die bislang verdeckt blieben.

Momentan profitiert die CDU von Angela Merkels geschicktem Umgang mit den Medien, der Entdramatisierung der zuletzt brachialen politischen Rhetorik und den verwirrten Kommentaren der Politiker und Publizisten, die eine »Sozialdemokratisierung« der CDU entdecken wollen. Etwa in der Zustimmung zur faktischen Rentenkürzung? In der Verschärfung der Hartz-IV-Gesetze für Jugend­liche?

Politik ist Performance. Die konkreten Grundwerte der CDU zeigen sich aber nicht in Christoph Böhrs weihevollen Grundsatzreden über die Einzigartigkeit jedes Menschen oder in den mahnenden Worten der Kanzlerin zu Guan­tá­namo. Sie offenbaren sich vielmehr in Wolfgang Schäubles Infragestellung des Folterverbots.