»Angst habe ich nicht«

yvette w. lebt in Paris am Rand der Vorstädte. Sie ist Jüdin und engagiert sich gegen Antisemitismus und Rassismus. Ein Gespräch über die Stimmung nach dem Tod von Ilan Halimi in der jüdischen Community

Waren Sie am Donnerstag bei der Trauerfeier für Ilan Halimi in der Großen Synagoge?

Nein, die Feier in der Synagoge war bloß eine Angelegenheit der offiziellen Politik. Das ist überhaupt nicht meine Sache. Ich bin auch ganz grund­sätzlich gegen die Synagoge und gegen jede Kirche. Ich kenne jemanden, der an der Feier sehr gerne hat teilnehmen wollen, aber nicht reingekommen ist, weil es viel zu voll war. Es waren sehr viele Politiker gekommen, jeder hat sich plötzlich zeigen wollen.

Begrüßen Sie diese Geste der französischen Politik?

Es ist normal, dass die Politiker in dieser Situation zu so einer Veranstaltung gehen. Sie müssen sogar gehen, das ist auch ihre Pflicht.

Ist es ein positives Signal, dass Frankreich sich zu seinen jüdischen Bürgern bekennt?

Da ist auch sehr viel Heuchelei dabei. Ich habe generell kein besonderes Vertrauen in unsere Politik. Warum sollte ich es also jetzt in diesem Fall haben?

Aus der jüdischen Gemeinde gab es deutliche Kritik am Vorgehen der Ermittler. Was wird den Behörden vorgeworfen?

Beispielsweise dass sie nicht schnell genug reagiert haben. Wenn sie entschlossener gearbeitet hätten, würde Ilan vielleicht noch leben. Man kann nicht behaupten, dass die Polizei ihre Arbeit wirklich gut gemacht hätte. Die Täter sollen E-Mails mit ihren Forderungen an die Familie geschickt und viel Geld verlangt haben. Irgendwann soll die Polizei den Angehörigen geraten haben, sie sollten auf die Mails nicht mehr antworten – und ein paar Tage später hat man Ilan gefunden. Es war ganz offensichtlich die falsche Strategie.

Wurde die antisemitische Dimension des Verbrechens von den Behörden unterschätzt?

Dass der Entführte Jude ist, war in der Öffentlichkeit zunächst gar nicht bekannt. Zuerst wurde in der Presse nur der Vorname genannt, Ilan. Ich wusste damit natürlich, dass es sich um einen Juden handelt, weil ich eben weiß, dass das ein jüdischer Name ist. Vielleicht gab es eine Übereinkunft mit den Behörden, in den Medien nicht zu erwähnen, dass es bei dieser Entführung einen antisemitischen Hintergrund gab. Allerdings habe ich spätestens dann gewusst, dass es um Antisemitismus geht, als die Behörden versichert haben: »Es ist nicht antisemitisch.« Inzwischen hat sich herausgestellt, dass es sich sehr wohl um ein antisemitisches Verbrechen handelt. Es ist ein Verbrechen, das viel ärger ist als ein Mord. Diese Tortur. Über drei Wochen hat man ihn gequält, das ist unbegreiflich.

Waren Sie bei der Demonstration am Sonntag?

Ja, auch wenn ich schon eine alte Frau bin. Wenn mich etwas berührt, dann gehe ich auch zur Demonstration, so lange ich noch laufen kann.

Haben Sie selbst in Ihrem Alltag die Erfahrung gemacht, dass Sie als Jüdin belästigt oder angefeindet wurden?

Nein, woher soll man auch wissen, dass ich Jüdin bin? Es steht nicht auf meiner Stirn geschrieben, ich trage auch keinen gelben Stern wie damals. Ich habe keine Angst.

Welche Konsequenzen gibt es aus diesem Verbrechen?

Es heißt halt, man soll wachsam sein und, wenn etwas passiert, sofort eine Anzeige machen. Zudem hat die jüdische Community eine Telefonhotline geschaltet, wo man anrufen soll, wenn man Opfer einer Aggression geworden ist oder etwas Auffälliges beobachtet hat. Es geht dabei aber nicht nur um antisemitische Übergriffe.

Sie engagieren sich gegen Antisemitismus und Rassismus. Wie sieht Ihre Arbeit genau aus?

Ich bin aktiv in einer Organisation, die mit Kindern arbeitet. Die Association pour la Mémoire des Enfants Juifs Déportés geht in beinahe jede französische Schule, die vor dem Krieg von jüdischen Kindern besucht wurde. Die Namen der deportierten Kinder findet man noch heute in den Unterlagen der Schulen. Wenn wir die Namen haben, veranstalten wir eine Feier zum Gedenken an diese Kinder. Ihre Namen werden aufgerufen, und für jedes Kind wird ein Luftballon mit dem Namen fliegen gelassen.

Welche Erfahrungen machen Sie an den Schulen mit muslimischen Kindern?

Für mich ist es besonders interessant, in eine Klasse zu gehen, in der Kinder verschiedener Herkunft und aller Hautfarben gemeinsam lernen. Das ist eine wirklich wunderbare Erfahrung. Ich sehe das als sehr wichtige Aufgabe an, den Kindern zu erklären, wie Rassismus entsteht und wie es zu den Verbrechen des Nationalsozialismus hat kommen können.

Woher nehmen Sie die Zuversicht für Ihre Arbeit?

Ich sehe mich in einer Schuld dem Leben gegenüber. Ich bin ein sehr glücklicher Mensch. Sie müssen wissen, dass meine Mutter und mein Vater nicht deportiert wurden, sie sind beide gestorben, als sie schon sehr alt waren, einen ganz normalen Tod. Weil ich sehr viel vom Leben bekommen habe, habe ich das Gefühl, selbst etwas geben zu müssen.

interview: kerstin eschrich und heike runge