Die alten und die neuen Pioniere

In Dimitrovgrad wurde einst Kohle abgebaut und Kunstdünger hergestellt. Heute produziert ein Geschäftsmann dort die Musik, vor der es in ganz Bulgarien kein Entkommen mehr gibt: Popfolk. von jutta sommerbauer (text und fotos)

Schön sind die Morgenstunden, wenn die Sonne rasch emporsteigt, die langen Schatten der Fabrikschlote die Finger ausstreckend, wenn der Strom der Menschen und Fahrzeuge allmählich in die Industriezonen abfließt. Wenn die Stadt ihren Arbeitstag beginnt. Dimitroffgrad.« So klingt die Prosa des bulgarischen Sozialismus in deutscher Übersetzung. Elena Georgieva, die Direktorin des Historischen Museums Dimitrovgrad, holt die alten Bände aus den siebziger und achtziger Jahren aus einem Schrank hervor und breitet sie auf dem Sofatisch in ihrem Arbeitszimmer aus: bunte Bilder von zufriedenen Arbeitern, rauchenden Chemiekombinaten, Frauen, die mit Kinderwägen vor ordentlichen Wohnblocks auf- und abfahren. Auch das klobige Museumsgebäude ist auf einem der Fotos zu sehen. »Museum des sozialistischen Aufbaus« hieß es damals noch. Selbstverständlich würde man diese Broschüren heute nicht mehr an die Leute verteilen, sagt Frau Georgieva nachdrücklich. Nur Besucher mit besonderem Interesse für die Geschichte der Stadt bekämen sie zu sehen.

Wenn Elena Georgieva von Dimitrovgrad erzählt, dann spricht sie über sich selbst. »Ich bin die Frucht dieser Generation, die hierher kam, um Dimitrovgrad zu errichten«, sagt sie. »Mein Vater stammt aus Nordbulgarien, meine Mutter ist aus Haskovo in Südbulgarien. Viele der jungen Leute, die gekommen waren, um Dimitrovgrad aufzubauen, ließen sich nieder, sie heirateten und blieben hier, um zu leben.«

Im Jahre 1947 trifft der Ministerrat der Volksrepublik die Entscheidung, dass in der südbulgarischen Ebene auf dem Gebiet der drei Dörfer Rakovski, Marijno und Tschernokonjovo ein Werk für Kunstdünger erbaut werden soll. Für ein derart großes Projekt – immerhin das erste große chemische Werk Bulgariens – benötigt man viele Arbeitskräfte, und die müssen irgendwo untergebracht werden. Also beschließt man, neben dem Industriekomplex auch eine Stadt aus dem Boden zu stampfen und benennt sie nach dem ersten bulgarischen Präsidenten Georgi Dimitrov. Zwischen 1947 und 1950 beginnen 50 000 Brigadiere diese »erste sozialistische Stadt« zu errichten; die jungen enthusiatischen Menschen stammen aus insgesamt 963 Dörfern und Städten. Ein Jahr vor der Gründung der Stadt zählt das Gebiet 9 000 Einwohner, zehn Jahre später sind es schon 35 000, in den achtziger Jahren schließlich über 50 000.

»Dimitrovgrad ist Jugend und Liebe.« Ja, sagt Nina Umurska, die Alten hätten solche Erinnerungen, wie sie im Bildband neben dem Gruppenfoto der Brigadiere geschrieben stehen. Sie selbst sei für solche Nostalgie schlicht und einfach zu jung. Die 31jährige Historikerin führt die Besucher durch die einfach gestaltete Ausstellung des Museums. Sie zeigt auf die ausgestellten Fotos. Das Schöne an der Stadt seien die vielen Grünflächen, ein Verdienst der sowjetischen Planer. Natürlich, ihr Zustand sei schon mal besser gewesen, gibt sie zu. Und die stalinistische Wohnbauarchitektur der fünfziger Jahre sei zwar qualitativ hochwertiger als die späteren Plattenbauten, allerdings auch erdrückend in ihrer Megalomanie. Vielleicht ist der Verfall der Stadt heute nirgendwo so eindrücklich zu spüren wie in diesem Museum.

Dennoch hat man in Dimitrovgrad die Leistungen der Pioniere in guter Erinnerung behalten. »Im Laufe der Zeit wurde die Brigadierbewegung erst geliebt, dann wieder verleugnet. Man kann jedoch nicht den Enthusiasmus der jungen Leute bestreiten, die hierherkamen, um die Stadt ihrer Träume zu errichten«, verteidigt Elena Georgieva die sozialistischen Arbeitstrupps. Heute fehle dieses Gemeinschaftsgefühl, deshalb wüssten die jungen Leute auch nichts mit ihrem Leben anzufangen. »Die sind nicht hergekommen, so wie man jetzt nach Amerika geht – wegen Geld. Sie sind nicht hergekommen, um etwas zu gewinnen, sondern um etwas aufzubauen, um etwas für die Leute zu machen.«

Dimitrovgrads einstiger Stolz, die Schwerindustrie, rostet heute vor sich hin. Die Industriezone, die sich um die Stadt zieht, besteht größtenteils aus Ruinen. Die Kohlegruben existieren nicht mehr. Das Chemiewerk kommt nach der Privatisierung mit einem Bruchteil des Personals aus. Und die ehemalige große Textilfabrik, das Polyester-Kombinat, ist mittlerweile geschlossen.

Alternative Verdienstmöglichkeiten gibt es kaum. Neben ein paar neuen Privatfirmen sei es vor allem der Handel, der die Leute hier ernähre, erzählt die 59jährige Elka. Dimitrovgrad ist für seinen riesigen Markt bekannt, auf dem vor allem aus der Türkei importierte Waren weiterverkauft werden. Schuhe, Textilien und Haushaltswaren gibt es hier in rauen Mengen und zu Spottpreisen. Die Einwohner versuchen sich als Weiterverkäufer. »Reich wird man davon nicht«, meint Elka. Sie sitzt vor dem Damen-WC auf dem Markt. Die Rentnerin reißt das farbige Toilettenpapier in Stücke, faltet es fein säuberlich und türmt es zu gelben und rosa Stößen. Wie viele Frauen der Stadt hat sie einst in der Leichtindustrie gearbeitet, in Nähereien, in der Nahrungsmittel- und Kosmetikerzeugung. Heute reinigt sie Toiletten, um sich Medikamente kaufen zu können.

Eine Erfolgsgeschichte des freien Markts gibt es jedoch auch, und alle können sie erzählen: die von Mitko Dimitrov. Nicht nur seinem Namen nach ist der Geschäftsmann ein echtes Kind dieser Stadt. Früher arbeitete er als Maschinenbauingenieur im Polyester-Kombinat. Seit Kindertagen ein Musikliebhaber und Technikfreak, begann er auf seinem Pioneer-Audiodeck Kassetten zu überspielen. Am selben Ort, wo 40 Jahre zuvor die jungen Brigadiere die sozialistische Stadt erbauten, betätigte er sich ebenfalls als Pionier – in Sachen Musikbusiness. Schon bald verpassten ihm Freunde den Spitznamen »Mitko Paynera«. Als der Geschäftsmann im Jahr 1990 sein eigenes Label gründete, machte er den Namen zur Trademark.

Das Erfolgsrezept von Payner Music ist bulgarischer Popfolk. Tschalga, so die bulgarische Bezeichnung des Genres, ist die populärste Musik im Land. Popfolk ist überall, und selbst wenn man wollte, könnte man ihm nicht entkommen. Der Synthiepopsound, mit Motiven aus der Folklore der Balkanländer, orientalischen Rhythmen und schmachtendem Gesang versetzt, ist allgegenwärtig im Radio, in Bussen, Cafés und an anderen öffentlichen Orten.

Payner veröffentlicht jedes Jahr etwa 200 Alben, Compilations und DVDs. Zum Firmenimperium gehören der Musiksender Planeta TV, der via Satellit sendet, und die auf Franchising-Basis funktionierende Diskotheken-Kette Planeta Payner, deren Vergnügungsstätten im ganzen Land vermehren. Über den Gewinn, den seine Hitfabrik jährlich erwirtschaftet, schweigt Dimitrov. Das sei Firmengeheimnis, sagte er einmal der Wochenzeitung Kapital. Wahrscheinlich, so gab er sich bescheiden, sei der Popfolk ein gutes Business, »zumal er Fußballstadien füllt«.

Auch Elka weiß über Payner Bescheid. »Natürlich kenne ich die, ich wohne ja ganz in der Nähe«, berichtet sie. »Ich sehe oft die Mädchen vor dem Haus stehen. Das sind schöne Kinder, ich freue mich für sie. Es ist gut, dass sie sich verwirklichen können.« Dass die Sängerinnen in den Videos oft nur leicht bekleidet und ziemlich lasziv sind, stört sie nicht. »Das ist jetzt modern«, gibt sie sich gelassen.

Das Hauptquartier der Plattenfirma sieht erstaunlich schmucklos aus. Nur die Aufschrift »Payner Music Company« weist darauf hin, dass sich hinter dem dreistöckigen weißen ­Gebäude kein normales Einfamilienhaus verbirgt. Gäste werden zunächst von einem Wachmann empfangen, im Inneren des Gebäudes reiht sich ein kleines Büro an das nächste. Der PR-Manager Ljubomir Kostadinov hat leicht ergrautes strähniges Haar, er trägt eine schwarze Weste und Jeans. Wie er lässig in seinem schwarzen Bürosessel sitzt, erinnert er eher an einen Rocker als an einen Geschäftsmann. Ob man in seiner privaten Plattensammlung Tschalga finden würde, erscheint fraglich.

Der Manager erklärt, warum gerade Payner der Marktführer im Folkmusik-Business ist: »Wir haben alles unter Kontrolle«, sagt er zufrieden. Die Firma habe es geschafft, den Zyklus zu schließen – »vom kreativen Schaffensprozess über die technologische Realisierung bis hin zur Lieferung zum Kunden.« Zu Beginn der neunziger Jahre war der Tschalga vor allem wegen seiner vulgären Texte, provokativen Posen und amateurhaften Videos in aller Munde. Die Folk-Stars führten vor, was sich alle vom Kapitalismus versprachen: ein Ding drehen und ausgesorgt haben, ein Leben im Luxus, Hedonismus, guter Sex, dicke Autos. Viele kleine Firmen experimentierten auf dem neu entstandenen Markt herum. Doch diese Zeiten sind vorbei. Die Produktionen sind professionell geworden, klar normierte Produkte in einem Genre, das immer uniformer wird.

Anelia, Malina, Emilia, Gloria, Preslava, Gergana, Kamelia: Die Liste der Namen ist lang und mitunter verwirrend. Hier in die Dimitrovgrad werden die Stars gemacht, die das Land erobern. »Alles passierte wie in einem schönen Hollywood-Märchen: Du gehst als Mädchen schlafen, und wachst als Star auf«, fasste Gergana ihren Werdegang in einem Interview zusammen. Mit Anfang 20 ist sie einer der Stars am Popfolk-Himmel und sieht wie eine Kopie von Pamela Anderson aus. Lange Haare, ein schlanker und doch wohlgeformter Körper reichen aber nicht, gibt Ljubomir Kostadinov zu bedenken. »Du musst künstlerisch und charismatisch sein. Da unsere Sängerinnen in Diskotheken und Restaurants singen, müssen sie einen lebendigen Kontakt mit dem Publikum haben.«

Doch vom Traum vieler Mädchen, Folk-Sängerin zu werden, bis zu einem tatsächlichen Auftritt ist es ein weiter Weg. »Wir machen jedes Jahr ein Casting für junge Talente. Alle, die wollen, schicken eine Demokassette, Bilder und einen Lebenslauf an uns. Die Kommission der Firma sieht sich diese knapp 2 000 Einsendungen an. 200 werden zu einem Live-Aufritt in unser Restaurant Prikazkite in der Stadt Harmanli eingeladen. Von ihnen werden wieder zehn bis 20 Kandidatinnen ausgewählt, die dann hier Probeaufnahmen machen. Davon bleiben eine oder zwei übrig«, erklärt der Manager die Auswahlprozedur. »Das ist der Filter.«

Eigentlich wäre auf dem Planeten Payner alles perfekt, wären da nicht die Musikkritiker und Intellektuellen. Auf sie ist Kostadinov nicht gut zu sprechen. Im besten Fall würden sie den Popfolk ignorieren. Dem Vorwurf der Banalisierung der bulgarischen Volksmusik durch Tschalga hält er entgegen: »Was ist die bulgarische Folklore heute? Man könnte sagen: Die Musik, die heute die Bedürfnisse des bulgarischen Volkes befriedigt, ist die bulgarische Volksmusik.« Da die Bulgaren heute vor allem Popfolk hören, ist für Kostadinov der Kulturkampf entschieden: »Der Popfolk hat die Funktion der bulgarischen Folklore übernommen.«

Der Tschalga sei keine authentische, »reine« Musik, sagen andere. Gerade darin liegt wohl eine seiner größten Leistungen: das rücksichtslose Covern, die Vermischung der kulturellen Motive, Songtexte, die aus einem Mischmasch aus Bulgarisch, Serbisch, Türkisch und Romanes bestehen. »Auf dem Balkan gibt es immer einen fließenden Übergang der Sujets. Es gibt keine wirklich strengen Grenzen. Das ist heute auch bei der internationalen Musik so – wer kann schon genau sagen, woher was kommt. Alles ist verflochten«, meint Kostadinov. »Letzten Endes ist es nicht so wichtig, wo genau der Ursprung liegt – am wichtigsten ist, dass die Musik gehört wird und dass sie den Leuten eine Freude macht.«

Abends trifft sich die Jugend in den Internetclubs und Cafés, viele andere Möglichkeiten gibt es hier nicht. In Orten wie Dimitrovgrad scheint der Popfolk am besten zu funktionieren. Die Mädchen und Jungs aus der Hauptstadt des Tschalga bemühen sich, wie ihre Idole auszusehen. Und die Produkte der lokalen Kulturindustrie sind dank Payners Vertriebssystem überall verfügbar. In der Fußgängerzone gibt es einen Payner-Shop, wo sie gegen Bares erstanden werden können. Auch im ehemaligen Kino Druzhba (Freundschaft) soll schon bald ein Ableger der Planeta-Payner-Disco eröffnet werden, damit den Live-Auftritten der Popfolkstars nichts mehr im Weg steht.

Der große Platz vor dem Hochhaus der Gemeindeverwaltung ist am Abend wie leergefegt. Früher stand in der Mitte ein mächtiges Denkmal von Georgi Dimitrov, dem Namenspatron der bulgarischen Brigadierbewegung. Auf Hochzeiten und anderen festlichen Anlässen hielten die Bewohner hier den obligatorischen Fototermin ab. Ein paar Leute wollen es wiedererrichten lassen zwar nicht im Zentrum, aber an einem anderen Platz der Stadt. Es soll auch Geschäftsleute geben, die die zwischengelagerte Statue kaufen und sich auf ihr Grundstück stellen wollen. Ganz gut wäre der stählerne Georgi vermutlich bei Mitko Paynera aufgehoben, dem neuen Pionier aus Dimitrovgrad.