Sechzig ist kein Alter

Die Zeit feiert ihren 60. Geburtstag. andreas hartmann lädt sich selbst auf die Party ein

Ich lese die Zeit. Von vorne bis hinten, was unser Bundespräsident unbedingt erfahren sollte, denn der meinte jüngst: »Wer das schafft, den bewundere ich zutiefst.« Kein Mensch in meinem direkten Umfeld nimmt sonst die Zeit zur Hand. Diese zu lesen wird für so uncool gehalten wie eine in einem alten Bauernhaus lebende Wohngemeinschaft, die zu ihrem Sommerfest Franz Müntefering einlädt (was eine WG mit Zeit-Abo aus Brunnhofen tatsächlich getan hat, wie man in einer zum 60. Geburtstag der Hamburger Wochenzeitung erschienenen Chronik erfährt). Es ist sogar so, dass echte Zeit-Leser, wenn man sie dann doch einmal trifft, sich meist für ihre unsittliche Angewohnheit entschuldigen. Man habe eben keine Zeit, jeden Morgen eine Tageszeitung zu lesen, heißt es dann. Oder das Abo sei ein Geschenk der Oma für das bestandene Studium.

In unserer Redaktion wandert jede neue Ausgabe der Zeit nach einer einwöchigen Frist ungelesen in den Müll, was bei uns ein für derartige Jobs angesteller Kraftsportler erledigen muss, da die Zeitung so unglaublich schwer ist (allein schon die Grabplatte vorne, die Seite mit den Leitartikeln, wiegt um die fünf Kilo). Die Kollegen sind viel zu sehr damit beschäftigt, all die für eine linke Zeitung ungleich wichtigeren Medien zu scannen. Was schreibt der Feind? Die direkte Konkurrenz? Das linksradikale Sektenblatt? Der Blog antideutscher Breakcore-Spacken? Die Zeit scheint weder Feind noch Konkurrenz und gleich gar nicht linksradikal zu sein. Und breakcore-technisch gilt sie ebenfalls als ziemlich unbeleckt. Sie wird von Linken weder gehasst noch gemocht, sie wird eher belächelt und dank ihrer berühmten grundliberalen Ausrichtung, die niemandem wirklich weh tun möchte, für weitestgehend egal gehalten.

Aber eigentlich ist die Zeit eine tolle Zeitung. Allein schon, wer hier alles was zu sagen hat: ein Kettenraucher mit Stil (Helmut Schmidt, durfte sogar bei Beckmann Kette rauchen), der schönste Mann der Republik (Giovanni di Lorenzo, als Talkmaster ein echter Kumpeltyp), der Vater aller Kulturminister (Michael Naumann, »Du Gerd, ich habe einfach die Schnauze voll«), eine Leitartikelmaschine (Josef Joffe, weltberühmter »Transatlantiker«) und der Alte, Theo Sommer, der heute nicht wie bei anderen Zeitungen »ehemaliger Chefredakteur« genannt wird, sondern ungleich eleganter »Editor at large«.

Wenn es sein muss, greifen die Chefs sogar selbst ein, um den Lauf der Dinge zu kommentieren. Passiert etwas in der Größenordnung Weltuntergang, kann man sicher sein, dass Helmut Schmidt diesen höchstpersönlich kommentiert. In klaren Worten wird er das Für und Wider eines Weltuntergangs abwägen, um sich dann am Ende aber unbedingt für eine der beiden skizzierten Positionen ganz entschieden stark zu machen. Und er wird obendrauf erzählen, wie er schon damals in ähnlich verzwickter Lage goldrichtig gehandelt habe, damals, als es schon einmal wirklich darauf ankam und der deutsche Staat von einer Horde bis an die Zähne bewaffneter Terroristen beinahe in die Knie gezwungen wurde.

Bei der Zeit scheint der Chef noch wirklich Chef sein zu dürfen, wie bei jeder anständigen Zeitung, die mehr als 5 000 Abonnenten beliefert, gibt es klare Hierarchien, die von allen respektiert werden. Als Giovanni di Lorenzo vor eineinhalb Jahren seinen Chefposten in der Wochenzeitung übernommen hatte, hieß es bald, dass er in kürzester Zeit in seinem neuen Arbeitsumfeld gehörig aufgeräumt habe. Mehr Alltagsthemen sollten her, Ressorts wurden aufgeweicht, mehr Leben wurde eingefordert. Zuerst hätten die Redakteure gemurrt, hieß es, dann hätten sie gekuscht, und am Ende seien sie mit den gegen ihren Willen eingeführten Änderungen zufrieden gewesen. Dass die Zeit aber seit di Lorenzo rockt, das kann man nun gerade nicht behaupten, doch das Blatt für Studienräte in Cordjackets, die »alte Tante«, das ist sie freilich auch nicht mehr, falls sie das überhaupt jemals war.

Blättert man die bereits erwähnte Chronik der Zeit durch, ist man jedenfalls erstaunt, was da in 60 Jahren alles so in der Zeitung vorgekommen ist. Marcel Reich Ranicki rezensierte einen Roman von Rolf Dieter Brinkmann, der ehemalige Feuilletonchef Rudolf Walter Leonhardt sprach sich für den Konsum von »Rauschgiften« aus, weswegen die inzwischen verstorbene graue Eminenz des Blattes, Marion Dönhoff, »wie ein Hund« gelitten haben soll. Und Uwe Nettelbeck schrieb über die Verurteilung von Thorwald Proll, Horst Söhnlein, Andreas Baader und Gudrun Ensslin nach dem berühmten Frankfurter Kaufhausbrand.

Natürlich sind das die Highlights aus 60 Jahren. Mit diesen gesammelten Texten könnte man sein Zimmer tapezieren, mit den in der Krisenphase der Zeitung, Ende der Neunziger, erschienenen eher öden Essays wahrscheinlich jedes einzelne Haus in Hamburg vom Keller bis zum Dachboden.

Aufgebläht ist in der Zeit immer noch vieles, und so manche Nachricht von der vorigen Woche wird auch dadurch nicht spannender, dass man sie nochmals auf einer ganzen Seite kommentierend nacherzählt. Einmal seit Bestehen der Jungle World, so viel Selbstkritik muss sein, hatten wir dieses Problem übrigens auch in unserer kleinen Wochenzeitung. Ein Bollwerk gegen die Spaßkultur, eine Zeitung, aus der auf jeder Seite der Staub rieselt, ist die Zeit aber auch auch nicht mehr, was allerdings weniger am betulichen »Leben«-Ressort, sondern am generell lockereren Auftreten der Zeitung liegt. Die Leitartikel sind mit den Jahren kürzer geworden, die Bilder größer und die Texte über Popmusik (die neue Neil Young, Lou Reed, Bob Dylan) länger. »Auch bei uns schlägt Jan Ullrich eine rumänische Pianistin«, hat unlängst di Lorenzo zugegeben. Vielleicht ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis in seiner Zeitung sogar wirklich ein Sport-Ressort eingerichtet wird.

Vielleicht werde ich mir dann auch ein Zeit-Abo von meiner Oma wünschen. Derzeit ist das leider sowieso nicht drin. Als Aboprämie winkt die Zeit-Uhr »1946« mit eingravierter Jahreszahl. Vielleicht ist die Zeit inzwischen sogar noch weiter, als ich dachte, in Anbetracht einer derartigen Geschmacklosigkeit, wie sie einem hier feil geboten wird. Am Ende ist das Blatt inzwischen ein Spaßorgan, das seine Leser manchmal gar nicht mehr ernst nimmt.