Von Malung in die weite Welt

Ob Eishockey, Bowling oder Motocross – die schwedischen »Reichssportgymnasien« versorgen die internationale Sportszene mit neuen Talenten. von bernd parusel, falun

Entgegen seinem guten Ruf im Ausland hat das schwedische Schulsystem einige Probleme: Vielerorts mangelt es an Pädagogen, die Klassen sind oft groß, und der Lehrerberuf hat, wie die Gewerkschaften kritisieren, keinen besonders hohen sozialen Status. Im Vergleich etwa zu den verbeamteten deutschen Lehrern sind die schwedischen Kollegen Geringverdiener. Zudem wird häufig kritisiert, dass die Lehrpläne zu unkonkret seien oder dass zu wenig Fremdsprachen gelehrt würden.

In einer Hinsicht sind die schwedischen Gymnasien aber schwer zu übertreffen – bei der Sportförderung. Neben der gängigen und überall betriebenen Leibesertüchtigung verfügt das Land heute über mehr als 50 »Reichssportgymnasien«. Das sind Schulen, die auf eine oder mehrere Sportarten spezialisiert sind und für die sich Schülerinnen und Schüler aus dem ganzen Land bewerben können. Die jeweils angebotenen Sportarten sind dort nicht Neben-, sondern Kernfächer; es gibt Lehrpläne und Noten. Wer eine dreijährige Ausbildung an einem Reichssportgymnasium hinter sich bringt, hat danach das landesweit gültige, gymnasiale Abschlusszeugnis, verfügt zusätzlich aber auch über eine nachweisbare Ausbildung in der gewählten Sportart.

Da nur eine begrenzte Anzahl an Plätzen zur Ver­fügung steht, im kommenden Schuljahr in ganz Schweden rund 1 300, gelten für die Reichssportgymnasien relativ strenge Aufnahmebedingungen. Neben einem vollständigen Abschlusszeugnis der neunjährigen schwedischen Grundschule müssen interessierte Schüler ein besonderes sportliches Talent nachweisen. Der »Reichssportverband« entscheidet zentral, wer in Frage kommt.

Insgesamt 37 Sportarten werden zwischen Malmö im Süden und Gällivare im hohen Norden an den Reichssportgymnasien angeboten, von Klassikern wie Fußball, Eishockey, Leichtathletik, Langlauf oder Alpinski bis hin zu Wasserski, Bogenschießen, Motocross oder Bowling. Die jeweilige Spezialisierung der Schulen hängt davon ab, was die entsprechende Gemeinde an Sporteinrichtungen zu bieten hat. In Tibro, wo ein Motorsportstadion steht, können Jungen und Mädchen Motocross lernen. Ski- und Snowboard-Unterricht gibt es vor allem an Gymnasien im Norden des Landes, wo die Winter lang und schneereich sind. Und Rudern wird von ­einer Schule in Strömstad an der Küste Westschwedens angeboten.

Auf dem Nola-Gymnasium im nordschwedischen Örnsköldsvik können die Schüler Eishockey- oder Skisprung-Profis werden, dort wurden bereits einige international bekannte Sportler ausgebildet. Peter Forsberg, der erst beim Örnsköldsviker Erstliga-Club MoDo Karriere machte und heute bei den Philadelphia Flyers spielt, war ebenso auf der Nola-Schule wie die NHL-Profis Markus Näslund, Niklas Sandström und Anders Eriksson.

Ihre Fotos zieren die Internetseite der Schule, da­runter stehen kurze Zitate, die eishockeybegeisterte Jugendliche nach Örnsköldsvik locken sollen. »Meine Zeit auf dem Hockeygymnasium war sowohl schön als auch prägend«, schreibt Markus Näslund. Und Peter »Foppa« Forsberg meint: »Die harte Konkurrenz hat uns alle besser gemacht. Wir haben uns ständig gegenseitig angespornt, dauernd waren wir in irgendeiner Art Wettkampf.« Entsprechend haben schon viele der heutigen Schüler Angebote, später einmal in Kanada zu spielen.

In der Regel geben die Sportgymnasien ihren Schülern viel Zeit für ihre Sport­aus­bildung. Auf dem Ski- und Snowboard-Gymnasium in Malung in der Provinz Dalarna müssen die Sportschüler nur zweieinhalb bis drei Tage pro Woche dem Unterricht in »normalen« Schulfächern folgen. Ansonsten sind sie im nahe gelegenen Skigebiet Sälen auf der Piste. Wie Örn­sköldsvik kann sich auch die Malunger Schule, die 1982 den Rang eines Reichssportgymnasiums bekam, bereits mit Prominenten schmücken. »Schon Pernilla Wiberg ist hier zur Schule gegangen«, erzählt die stellvertretende Rektorin Ulla Matsson der Jungle World. »Ich glaube, man kann wirklich sagen, dass die Reichssportgymnasien zum internationalen Erfolg schwedischer Sportlerinnen und Sportler beitragen.«

Zuletzt haben die Schweden ihre herausragenden Leistungen bei den Olympischen Spielen in Turin unter Beweis gestellt. Noch nie heimste das nordische Land so viele Medaillen ein. Sechs Mal Gold, drei Mal Silber und fünf Mal Bronze gab es für die schwedischen Athleten und Athletinnen, und von den zwölf schwedischen Snowboard-Fahrern, die in Turin dabei waren, kamen sechs aus Malung, wie Ulla Matsson stolz berichtet. »Viele unserer ehemaligen Schü­ler können heute von ihrem Sport leben«, sagt sie. »Gerade die Snowboarder können durchaus von ihren Preisgeldern leben, und Sponsoren haben sie ja auch.«

1972 wurden die ersten Reichssportgymnasien in Schweden eingeführt, und seither werden es immer mehr. »Der Profisport ist eine positive Kraft in der Gesellschaft, und die Gesellschaft würdigt dies, indem sie Mädchen und Jungen die Möglichkeit gibt, ihre Talente zu entwickeln und Schulbildung mit Profisport zu verbinden«, heißt es etwas trocken in einer Broschüre des Sportverbands »Riksidrottsförbundet«. Die Sportgymnasien sollen den Schülern, die sich für eine Aufnahme qualifizieren, jedoch nicht nur das Rüstzeug für den Profisport mitgeben, sondern eine »doppelte Karriere« ermöglichen. Sollte der Sport als Beruf nicht den Lebensunterhalt decken, verfügen sie allemal über eine abgeschlossene Gymnasial­bildung und können auch in anderen Bereichen arbeiten oder weiter studieren.

Einige Absolventen des Malunger Gymna­siums arbeiteten heute als Trainer bei Sportvereinen oder kümmerten sich dort um die Finanzen, sagt Ulla Matsson. Manch­mal schließt sich auch der Kreis, und an Sportgymnasien ausgebildete Jugendliche kehren später einmal dorthin zurück, um eine neue Generation zu unterrichten. Im mittelschwedischen Falun, wo am »Lugnetgymnasium« Leichtathletik als Spezialsportart angeboten wird, blicken die vier Trainer Björn Blomberg, Ullrik Mattisson, Torbjörn Eriksson und Bengt-Erik Blomkvist alle auf eigene Leichtathletik-Karrieren zurück.

In Malung will man, angespornt von den Erfolgen mit der Snowboard- und Alpinski-Ausbildung, im kommenden Herbst auch ein Eishockeygymnasium eröffnen, und zwar das erste, das ausschließlich Mädchen ausbildet. Die Vorarbeit haben der örtliche Frauen-Hockeyclub und ein Sportartikelhersteller geleistet. Ulla Matsson zufolge begeistern sich viele Mädchen in Malung schon lange für Eishockey. Nun soll ihr Sport, den sie bisher in der Freizeit betrieben haben, Teil ihrer Schulausbildung werden.

Für das nur 10 000 Einwohner zählende Malung und viele andere Gemeinden im schwedischen Hinterland bedeuten Sportgymnasien auch einen Prestigegewinn. Auch im wohlhabenden Schweden gibt es einen Stadt-Land-Konflikt, und vor allem im Norden fühlt sich die Landbevölkerung von den Hauptstadt­politikern übergangen. In Malung und vielen anderen Kommunen sinkt die Einwohnerzahl, und das Durchschnittseinkommen derer, die noch dort wohnen, ist geringer als in den Städten oder im boomenden Südschweden. Sportler auszubilden, die international Erfolg haben, kann die Minderwertigkeitskomplexe in abgelegenen Landstrichen – zumindest oberflächlich – ein wenig lindern.

Einige erfolgreiche schwedische Sportler fühlen sich jedoch, wenn sie es erst mal zu etwas gebracht haben, nicht mehr allzu stark an ihre Herkunftsgemeinden gebunden. Dreispringer Christian Olsson und Hochspringerin Kajsa Bergqvist etwa leben heute in Monaco, wo sie weniger Steuern bezahlen. Soziales Engagement sucht man, wie die linke Wochenzeitung Arbetaren in ihrer aktuellen Ausgabe bemängelt, vergeblich. In Frankreich hätten sich Sportprominente wie etwa die Siebenkämpferin Eunice Barber den Protesten gegen die neoliberale Arbeitsmarktpolitik angeschlossen. Dass Barbers stets gut gelaunte Kollegin Karolina Klüft sich auf den Straßen ihrer Heimatstadt Växjö ein Handgemenge mit der Staatsgewalt liefern könnte, wie der Arbetaren träumt, ist tatsächlich eine recht abwegige Vorstellung.