Wird es noch Mai?

Was haben die Proteste in Frankreich mit 1968 zu tun? Wie sehen das die Beteiligten? Ein Unterschied ist offenkundig: Damals wurden keine Demonstrationen von Jugendlichen aus den Vorstädten überfallen. von bernhard schmid, paris

Bei den gegenwärtigen Protesten in Frankreich ist sicher einiges anders als im Mai 1968, als Studenten und Arbeiter auf den Barrikaden waren und für kurze Zeit alles möglich schien. Ein Unterschied ist das Wetter: Bei einem solchen ekelhaften Nieselregen und in dieser nassfeuchten Luft kann kein Aufstand wirklich Freude bereiten.

Die Ereignisse von 1968 werden in diesen Tagen häufig in Erinnerung gerufen. So manche jugendlichen Streiter berauschen sich an der Vorstellung von einer Wiederkehr der damaligen Ereignisse, und nicht wenige in die Jahre gekommene Journalisten schwelgen in ihren Jugenderinnerungen. Aber nicht immer geht es dabei nostalgisch und mystifizierend zu, zuweilen wird der Mai ’68 auch bemüht, um die heutigen Proteste klein zu reden oder madig zu machen. Landauf, landab erzählt etwa Daniel Cohn-Bendit, der Barrikadenkämpfer von einst und Linksliberale von heute, dass es sich damals um eine phantasievolle und ideenreiche Bewegung gehandelt habe. Lahm und langweilig sei dagegen der Protest von heute. Diese Jugendlichen wollten nicht das Ganze verändern, sondern bloß in die Arbeitswelt integriert werden.

»Im Mai 1968 kämpften die Studenten gegen die Arbeit. Heute kämpfen sie gegen die Arbeitslosigkeit«, schreibt auch die Satirezeitschrift Charlie Hebdo auf ihrer berüchtigten letzten Seite, und in der taz ist zu lesen, das »Denken eines großen Teils der französischen StudentInnen in diesem Frühling 2006« sei »sozial und reformistisch, aber nicht revolu­tionär«. Die Verfasserin meint das als Kompliment. Aber stimmt es denn?

Diskussionen in Nanterre: Studenten, Streik und Arbeit

Zum Jahrestag der Ereignisse vom 22. März 1968 in Nanterre, die dem späteren Aufstand vorausgingen, findet auf dem Universitätsgelände von Censier eine Diskussionsveranstaltung statt. Man will über Parallelen, Unterschiede und Lehren reden. Auf dem Podium sitzt unter anderem Daniel Bensaïd, damals der Sprecher der Revolutionären Kommunistischen Jugend (JCR), der heutzutage in Saint-Denis Philosophie lehrt und noch immer einer der bekanntesten Köpfe der französischen radikalen Linken ist. Neben ihm hat Herta Garcia Platz genommen, die sich selbst als »Tochter einer Dynastie spanischer Anarchisten« bezeichnet. Damals war sie Mitglied einer anarchistischen Studentenorganisation, heutzutage ist sie bei den prekären Kulturarbeitern tätig. Der große Hörsaal der Universität, an der vor allem Kultur- und Filmwissenschaften, Theater und Literatur unterrichtet werden und die zur Hochschule Paris III gehört, ist recht voll.

Was sagt Aurélie zu der Behauptung, dass die Studenten von heute nur mitmachen wollten? Die Bedingungen hätten sich geändert, meint die blondgelockte Studentin Anfang zwanzig. »Unsere Eltern konnten einfach einen Job kündigen oder rausgeschmissen werden, um am nächsten Tag anderswo anzufangen. Das ist heute anders, aber das heißt nicht, dass wir eine idyllische Vorstellung von der Erwerbsarbeit hätten.« Die Kommilitonen von heute würden das Arbeitsleben aus eigenen Erfahrungen kennen. Die Zahl der Studenten sei in Frankreich von 200 000 im Jahr 1968 auf über zwei Millionen angestiegen, damit habe sich auch ihre soziale Zusammensetzung verändert. »70 Prozent von uns arbeiten heute, um selbst ihr Studium ganz oder teilweise zu finanzieren. Vom Job bei McDonald’s bis zur Aushilfe in der Bank. Glauben Sie nicht, dass wir die Arbeitswelt vergöttern!«

Was ist mit der Kritik, der Protest erschöpfe sich im Kleinklein? »Natürlich wurde in den studentischen Vollversammlungen von 1968 dauernd über die andere Gesellschaft gesprochen, das haben wir heute in dieser Form nicht. Aber war es damals tiefgründiger?«

Cédric, der zum streikenden technischen Personal der Hochschule gehört, meint: »Damals stand für viele außer Frage, dass ein anderes System möglich sei.« Man habe geglaubt, in der ganzen Welt den Übergang zu einer neuen Gesellschaft beobachten zu können, und sich deshalb nicht allzu viele Gedanken darüber gemacht, wie dies vonstatten gehen sollte. Heute sei das alles komplizierter. Dafür stülpe man nicht der Wirklichkeit ein Sozialismusmodell über, sondern fange an, die Probleme von Grund auf anzugehen. Dies sei vielleicht ein langwieriges, aber kein langweiliges Vorhaben.

Allmählich kommt auch die Debatte im Saal in Schwung. Viele drücken ähnliche Ideen aus wie die beiden. Ein wesentlich jüngerer Student meldet sich zu Wort: »Ich höre dauernd, dass wir in Europa ein Problem haben, weil China sich rasant industriell entwickelt, weil die Konkurrenz härter wird und wir uns um unsere wirtschaftliche Zukunft sorgen müssen. Ich bin im ersten Universitätsjahr und kann darauf nicht antworten. Okay, die Sache mit dem CPE ist mir klar. Aber kann man wirklich daran denken, so alles umzustürzen? Müssen wir nicht aufpassen?« Ein paar Diskussionsteilnehmer antworten ihm mit Ausführungen zum Wirtschaftssystem, über die Entwicklung Chinas dagegen kann heute nicht mehr diskutiert werden.

Eine Hochschullehrerin, die 1968 ebenfalls auf der Straße war, meldet sich zu Wort: »Viele linke Gruppen wollten damals Stadtguerilla machen. Sie zündeten Autos an und suchten die Konfrontation mit der Polizei. Die Wahlen im Juni 1968 haben die Gaullisten dann haushoch gewonnen. Heute sollten wir nicht denselben Fehler wiederholen!« Wer Veränderung wolle, müsse auch an die Wahlen denken.

»Im Unterschied zu den damaligen Protesten beispielsweise in Berkeley oder Westberlin hatten wir in Frankreich nicht nur eine Studentenbewegung, sondern auch einen Generalstreik mit zehn Millionen Leuten. Die Repression gegen die Studenten und der Aufruf der Gewerkschaften zum Solidaritätsstreik führten zu einer sozialen Explosion«, sagt Bensaïd. Aber man solle sich im Nachhinein keinen Illusionen hingeben, viele Studenten hätten zwar eine »regelrechte Mythologie der Arbeiterklasse« betrieben, aber vor den Fa­briktoren seien sie keineswegs mit Rosen empfangen worden. »Die Gewerkschaftsfunktionäre taten alles, um die Arbeiter von uns fernzuhalten. Für die waren wir politische Abenteurer.«

Seine Mitdiskutantin Herta ergänzt: »Kontakt zu Arbeitern hatten wir schon, aber vor allem zu den jüngeren, die nicht in der Gewerkschaft waren und sich im Zuge der Bewegung in ›Aktionskomitees‹ in den Fabriken zusammenschlossen. Die stellten sich zum Teil dieselben Fragen wie wir. Denkt nur daran, was für Probleme wir damals hatten, die heute unvorstellbar sind: 1968 konnte man keine Verhütungsmittel kaufen, bis 1967 waren sie in Frankreich sogar gesetzlich verboten – wir holten uns manchmal welche in England oder mussten illegal abtreiben.«

Wenn man die jüngsten Ereignisse mit den Entwicklungen der letzten Jahre vergleiche, könne man optimistisch werden, meint Bensaïd: »Ein paar Jahre nach ’68 kam die große Trendwende, als die Ehemaligen Karriere machten und sozialdemokratisch wurden. Vor 15 Jahren wurde in Frankreich unter so genannten gemäßigten Linken ernsthaft über das ›Ende der Arbeiterklasse‹ diskutiert, die es nur noch in Schwellenländern gebe. Wenn wir an die Universität einen Arbeiter der Pariser Metrogesellschaft zu einer Veranstaltung einladen wollten, guckte man uns an wie Außerirdische. Die Mentalität auch bei manchen Links­intellektuellen war: Wer heute noch ein Arbeiter ist, hat’s einfach saudumm angestellt im Leben! Das ist doch vorbei. Seit den Streiks von 1995 und 2003 ist es normal geworden, dass Studenten und Lehrerinnen bei der Frühschicht morgens um sechs die Streikversammlung in der Metro besuchen und dass Angestellte der Post in die bestreikte Universität kommen.« Zu übermäßigem Naserümpfen über die utopielose Zeit sieht er also gar keinen Anlass.

Manche machen’s vor, andere machen nicht mit

Nieselregen fällt auf den riesigen Campus von Nanterre, fünf Kilometer außerhalb von Paris. »Auf Entscheidung des Rektors hin ist die Hochschule für unbestimmte Zeit geschlossen«, verkünden große Aushänge. Immerhin: Auch 1968 waren Nanterre und die Sorbonne von der Verwaltung geschlossen worden. Dennoch sind einige Studenten unterwegs. Manche hasten in die trotz allem geöffnete Bibliothek, andere zieht es zu den Versammlungen der »Offenen Universität«. »Beispiele von Kämpfen in der Arbeitswelt – Erfolgreiche Kämpfe von Prekären« lautet das Thema einer Debatte. Es geht um einen Streik afrikanischer Putzfrauen beim Hotelkonzern Accor, der über ein Jahr dauerte, oder um einen langwierigen Arbeitskampf in einer Filiale von McDonald’s in Paris. Rund 60 interessierte Studenten hören zu, manche nehmen sich Informationsmaterial, andere stellen viele Nachfragen. Nebenan diskutieren vielleicht 200 Leute lebhaft über Aktionsformen. Nicht alle sind politisch organisiert, aber je länger die Bewegung existiert, desto mehr Menschen schließen sich ihr bei solchen Diskussionen an.

Um die Mittagszeit treffe ich eine Bekannte, die an ihrer juristischen Promotion arbeitet. Sie beteiligt sich am Streik. In ihren Seminaren hat sie versucht, die Studenten zum Mitmachen zu bewegen. »Durch die Blume habe ich meine Überzeugung angedeutet. Aber nur vorsichtig, denn sonst kommt der eine oder andere Gegner des Streiks auf die Idee, dass seine schlechten Noten aus politischer Benachteiligung resultieren könnten.« Streikgegner? Doch, unter den Jura­studenten gebe es viele, natürlich auch unter dem Lehrpersonal. Einige von ihnen hätten bereits Petitionen und Musterklagen gegen die »Blockaden« verfasst. Derart viele Streikgegner gebe es in den sonstigen Fächern nicht. Und innerhalb des Fachbereichs gibt es wiederum Ausnahmen: »Die Arbeitsrechtler zum Beispiel sind sehr engagiert, auch manche aus dem Bereich Öffentliches Recht – das sind die Studenten, die Jura studieren, weil sie juristisch gegen die Staatsmacht kämpfen wollen.«

Zusammenprall mit Jugendlichen aus der Banlieue

»Villepin, du bist futsch, die Juristen sind auf der Straße«, hat eine Studentin von der Sorbonne auf einen Pappkarton geschrieben, den sie bei der großen Demons­tra­tion am Donnerstag durch Paris trägt. Sie läuft in einem der vorderen Blöcke. 30 000 oder 40 000 Studenten und Jugendliche sind gekommen; noch fehlen die Arbeiter und Angestellten, ihr Aktionstag ist erst am Dienstag.

Die Aussagen zum Ersteinstellungsvertrag sind durchaus unterschiedlich. »My kingdom is a real contract« hat ein junger Mann auf sein Demoschild gepinselt und meint damit einen »richtigen Arbeitsvertrag«, mit dem er offenbar zufrieden wäre. Andere, allem Anschein nach viele Kulturprekäre unter ihnen, meinen: »Ni CDI ni CPE!« Sie lehnen also nicht nur den Ersteinstellungsvertrag ab, sondern auch den normalen Arbeitsvertrag, den CDI. Statt in geregelten Verhältnissen arbeiten sie lieber »selbstbestimmt« und »kreativ« im Kultursektor. »Stolz, prekär zu sein?« hat sogar einer auf ein Schild geschrieben, immerhin mit einem Fragzeichen.

Zum Abschluss kommt es zu hässlichen Szenen. Während des Umzuges konnte nicht viel passieren, da die Studenten und, nach leidvollen Erfahrungen im März vorigen Jahres, auch die Oberschüler gelernt haben, ihre Demonstrationen durch Ordnerdienste zu schützen. Aber kaum ist die Demonstration auf dem Platz vor dem Invalidendom aufgelöst, fängt es an zu knallen. Die mehreren hundert Mitglieder von Jugendgangs, die den Protestzug von Anfang an begleitet hatten, greifen mit Wurfgeschossen die Bereitschaftspolizisten an, die mit Tränengas antworten.

Das Vorgehen der Jugendlichen, von denen viele aus den Banlieues stammen dürften, ist unorganisiert und chaotisch. Und einige der Gangmitglieder scheinen auch gekommen zu sein, um Demonstranten auszurauben. Einzelne werden zu Boden gerissen, an den Haaren gezerrt, getreten und geprügelt.

»Es kotzt mich an, in den Medien werden sie hauptsächlich darüber berichten«, empört sich Sandra von der linksalternativen Gewerkschaft Sud. Einer ihrer Begleiter fügt hinzu: »Das ist dramatisch, weil es zeigt, wie sehr die Gesellschaft in Partikulargruppen aufsplittert, die kaum mehr miteinander zu tun haben – wie in vielen Großstädten der USA. Die jungen Leute aus den Gangs, die uns angreifen, können mit den Interessen der Demonstranten überhaupt nichts anfangen. Dabei sind es sie und ihr Umfeld, die am härtesten von den antisozialen Maßnahmen dieser Regierung betroffen sind.« Ein 40jähriger Erzieher meint: »Viele dieser Jugendlichen haben bald Schulferien und können nicht das Geringste unternehmen, weil sie kein Geld haben. Sie glauben, dass sie hier ein paar Euros machen könnten. Das zeigt, welche Armut da herrscht, aber auch welche Bewusstlosigkeit. Für sie sind diese Jugendlichen hier nur Privilegierte, wenn nicht Feinde.«

Ein vielleicht 16jähriger Schwarzer sitzt mit einer Gruppe von Gleichaltrigen, die offenkundig selbst aus der Banlieue kommen, kopfschüttelnd daneben: »Im Prinzip sind das meine Brüder. Aber keine Ahnung – frag’ mich bloß nicht, was wohl in deren Köpfen vorgeht.«

Nach einer halben Stunde hat die Polizei den Platz geräumt, mit anderen zusammen werde ich über die nahe Brücke aufs andere Ufer der Seine gedrängt. Plötzlich befinde ich mich kurzfristig in einem Pulk von 100 bis 200 Leuten aus Jugendgangs, die sich aber nicht für mich interessieren. »Mit wem bist du unterwegs?« höre ich mehrmals, die Jugendlichen sind offenkundig in Kleingruppen organisiert.

»Irgendwann gibt es nur noch eine Lösung wie in den USA: Schießen, aber auf die Beine zielen«, höre ich später einen Demonstranten auf dem Heimweg sagen. Ein anderer meint: »Ich verstehe sie schon, seit 20 Jahren wachsen sie in heruntergekommenen Hochhausghettos auf, die man verrotten lässt. Da würde ich auch durchdrehen.« Allgemein herrscht Ratlosigkeit. Jedenfalls hat die Polizei diesen Konflikt dankbar aufgegriffen. Festgenommen worden sind diversen Augenzeugenberichten zufolge vor allem einzelne Demonstranten, die Parolen gegen die Bereitschaftspolizei riefen oder allenfalls Wurfgeschosse in deren Richtung schmissen. Dagegen habe man die teilweise mit Stöcken bewaffneten Gangmitglieder eher gewähren lassen. Das Chaos, das sie angerichtet haben, könnte man meinen, ist ja nützlich.