Autonome Islamisten

Anklageerhebung zu den Terroranschlägen in Madrid von thorsten mense

54 271 Euro und den Gedanken vom Jihad – mehr brauchte es vor zwei Jahren anscheinend nicht, um ein Massaker in den Madrider Nahverkehrszügen zu verüben. Vergangene Woche legte der spanische Untersuchungsrichter Juan del Olmo in Madrid die Anklageschrift gegen die mutmaßlichen Attentäter vom 11. März 2004 vor. Insgesamt 29 Personen müssen sich voraussichtlich nächstes Jahr vor Gericht verantworten, sechs von ihnen sind wegen 191fachen Mordes und versuchten Mor­des in über 1 700 Fällen angeklagt.

Aus der 1 460 Seiten langen Anklageschrift geht hervor, dass die Islamisten nicht viel mehr als 50 000 Euro und auch keine internationale Organisation benötigten, um die Anschläge zu verüben. Wie bereits bei den Bombenattentaten in der Londoner U-Bahn konnte auch in Madrid keine direkte Verbindung zu al-Qaida festgestellt werden. Del Olmo zufolge standen die Attentäter der »Islamistischen Gruppe Marokkanischer Kämpfer« nahe, von Ussama bin Laden seien sie nur »inspiriert« worden.

Das ist keine unbedeutende Erkenntnis. Der »Krieg gegen den Terror« hat nämlich nur dann Sinn, wenn tatsächlich ein organisiertes Netzwerk existiert, das seinen fanatischen Kämpfern überall auf der Welt den Befehl geben kann, sich zu Ehren Allahs in die Luft zu sprengen. Wenn aber Islamisten offensichtlich nicht auf al-Qaida angewiesen sind, um Anschläge zu verüben, muss die Bekämpfung der dahinter stehenden Ideologie im Mittelpunkt stehen. Mit Krieg und Repression wird man dabei auf Dauer wenig Erfolg haben. So betonte auch Untersuchungsrichter del Olmo: »Der gefährlichste Feind ist nicht so sehr al-Qaida selber, sondern vielmehr diese fanatische Ideologie, die einen globalen Krieg gegen alle vermeintlichen Feinde des Islam propagiert.«

In dem Ermittlungsbericht wird auch festgestellt, dass die Eta weder »direkt noch indirekt« mit den Anschlägen in Verbindung stehe. Die damals regierende konservative Volkspartei PP hatte noch am Tag der Attentate die baskische Guerilla für die Morde verantwortlich gemacht und aufgrund dieser offensichtlichen Falschinformation die kurz darauf stattfindende Parlamentswahl verloren. Doch selbst nach Abschluss der Ermittlungen will der PP nicht wahrhaben, dass sein Lieblingsfeind nichts mit den Anschlägen zu tun hatte. Der Fraktionssprecher des PP, Vincente Martínez-Pujalte, bezeichnete die Argumentation der Anklage als »armselig«. Sie trage wenig dazu bei, in Erfahrung zu bringen, wer hinter den Attentätern stecke. Zudem traue sich heute niemand mehr »zu sagen, dass die islamistischen Terroristen und die ETA wie Wasser und Öl« seien und sich sowohl in den Gefängnissen als auch in ihren »Verfahrensweisen« vermischen würden. Der PP will nun erreichen, dass die Ermittlungen weitergeführt werden.

Herauszufinden gäbe es wirklich noch genug. Denn die unzähligen Ungereimtheiten, die bei den Ermittlungen aufgetreten sind, wer­den in der Anklageschrift weder angespro­chen noch aufgeklärt. So ist bis heute ein ehema­liger Angehöriger der spanischen Na­tio­nal­polizei auf freiem Fuß, der nicht nur in seinem Telefonladen die Handys freigeschaltet hat, mit denen die Bomben gezündet wurden, son­dern sogar selber die Zündvorrichtungen installiert haben soll. Ebenso bleibt offen, warum der parlamentarischen Untersuchungskommission Akten vorenthalten wurden und wieso es Spitzel der Polizei waren, die den Sprengstoff besorgten. Die Vorsitzende der Opfervereinigung, Pilar Manjón, forderte daher weiter Aufklärung darüber, »was vor dem 11. März geschah«.