»Die Betreiber belächelten uns«

Ein Gespräch mit dem ehemaligen Bundesumweltminister jürgen trittin über Tschernobyl und den so genannten Atomkonsens

Was dachten Sie in der Zeit vor Tschernobyl über Atomkraftwerke?

Wir waren damals schon dagegen und haben viele Argumente vorgetragen, die heute wieder eine Rolle spielen, wie etwa die Frage eines Flugzeug­absturzes oder die Frage der ungelösten Entsorgung. Wir haben auch auf das inhärente Risiko hingewiesen, dass es zu einer Kernschmelze kommen kann. Dafür sind wir von den Betreibern vielfach belächelt worden. Insofern war die Erfahrung von Tschernobyl, dass eine Kernschmelze tatsächlich stattfinden kann, bitter. Aber sie kam nicht überraschend, denn wir hatten ja einige Jahre zuvor miterlebt, was in Harrisburg in den USA geschehen war.

In dem Buch »Wir sind die Wahnsinnigen« von Christian Y. Schmidt geht es um die Entstehung der Grünen. Darin wird behauptet, viele linke Grüne, ehemalige Mitglieder des Kommunistischen Bundes oder der Spontis, hätten damals eher ein instrumentelles Verhältnis zu den Protesten gegen die Atomkraftwerke gehabt.

Das mag für einen Teil der Linken zugetroffen haben. Für diejenigen, die wie wir fast zehn Jahre zuvor in Brokdorf oder Grohnde gegen die Atomkraft demonstriert hatten und die nie die Illusion hatten, dass Reaktoren im »Vaterland der Werktätigen«, sei das nun Russland oder China, ungefährlicher seien als im kapitalistischen Westen, galt das nicht. Die Tradition, aus der ich komme, hat schon damals demonstriert. Wir haben gesagt, dass die Nukleartechnologie als solche nicht zu verantworten ist.

Unter den Grünen gab es kürzlich einen Streit darüber, wer sich in Deutschland um die Endlager kümmern soll. Sie haben sich dafür ausgesprochen, dass die Industrie ein Endlager suchen soll, Ihr Kollege Reinhard Loske meinte, diese Aufgabe solle der Staat übernehmen. Sie haben sich durchgesetzt, Loske trat vom Posten des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden zurück und sagte, er fühle sich als Ökologe »ziemlich einsam« bei den Grünen.

Es ist eine Unterstellung, irgendjemand bei den Grünen würde vertreten, dass die Suche nach einem Endlager keine öffentliche Aufgabe sei. Das ist falsch. Jeder bei den Grünen, ich eingeschlossen, ist der Meinung, dass die Aufgabe der End­lagersuche in die öffentliche Hand gehört, unter Aufsicht des Bundesumweltministeriums und mit dem Letztentscheidungsrecht des Deutschen Bundestages. Da haben die Unternehmen gar nichts zu suchen. Die Unternehmen haben zu zahlen.

Der Auffassungsunterschied betraf die Frage, ob man unter den realen Bedingungen des Grundgesetzes einen anderen Weg finden kann, die Unternehmen in eine öffentlich-rechtliche Zwangskörperschaft zu zwingen, um sie dann unter der Rechtsaufsicht des Bundesumweltministeriums und unter dem Letztentscheidungsrecht des Bundestages über die Frage, welche Endlagerstätten verglichen werden, zu entscheiden. Das ist die Position der Grünen. Wir sagen, wir lassen die Unternehmen zahlen, aber wir behalten die Kontrolle über das Suchverfahren.

Der Ansatz von Reinhard Loske war ein anderer. Er hat in meinen Augen nicht nachweisen können, dass in seinem Vorschlag die Verursacher der Endlagersuche nicht am Ende von den Kosten entlastet werden und der Steuerzahler die 700 Millionen Euro zu bezahlen hat. Für diese Subvention der Müllverursacher wollte sich die Mehrheit der Fraktion nicht aussprechen. Ich fühle mich im übrigen als Ökologe bei den Grünen nicht einsam, sondern bestens aufgehoben.

Loske war offenbar der Meinung, dass mit Ihrem Verfahren eine Festlegung auf die Standorte Gorleben und Schacht Konrad getroffen werde.

Ausgangspunkt unseres Suchverfahrens ist es, die Vorfestlegung auf Gorleben und Schacht Konrad zu durchbrechen. Dies kann nur gelingen, wenn man das Verfahren auf der einen Seite gerichts- und verfassungsfest macht und wenn man zweitens diejenigen bezahlen lässt, die mit der Produktion des Mülls Geld verdienen. Wenn man ein nicht verfassungsgemäßes Verfahren anstrebt, dann landet man in der Tat in Gorleben.

Die Grünen waren maßgeblich am Zustandekommen des so genannten Atomkonsenses beteiligt. Michael Müller (SPD), der Parlamentarische Staatssekretär im Umweltministerium, sagte auf einem Kongress der IPPNW, der Atom­konsens sei kein Ausstieg, sondern ein beschleunigtes Auslaufen.

Wie Herr Müller das bezeichnet, ist mir relativ egal. Ich stelle fest, dass in einer Zeit, in der in den USA die Laufzeit von Atomkraftwerken von 40 auf 60 Jahre verlängert wird, wir sie in Deutschland auf 32 Jahre begrenzen, obwohl sie vorher unbefristet war. Ich stelle fest, dass in einer Zeit, in der von einschlägigen Konzernen massiv dafür geworben wird, durch einen neuen Subventionstatbestand den Wiedereinstieg in die Atom­energie hinzubekommen, etwa in Schweden, es in Deutschland ein Verbot für die Errichtung neuer Atomanlagen gibt. Ich bezeichne das als Ausstieg. Mit dieser Politik ist Deutsch­land im internationalen Vergleich nicht alleine, aber in der Geschwindigkeit und Gründlichkeit absoluter Vorreiter.

Die SPD will diese Politik in der großen Koa­lition weiterführen. Ist der Ausstieg bei Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) gut aufgehoben? Oder unterscheidet sich grüne Atompolitik davon?

Wenn Leute auf meinen Spuren wandern, schlage ich keine anderen Wege ein, nur um mich von ihnen zu unterscheiden. Ob sie auf diesen Spuren bleiben, wird sich in der Frage entscheiden, wie mit dem Antrag der Betreiber umgegangen wird, neuen Atomanlagen Laufzeiten abzuziehen, um diese dann technisch schlechteren, sehr viel älteren Anlagen zur Verfügung zu stellen. Das wird die Nagelprobe für Herrn Gabriel sein.

Der grüne Parteivorsitzende Reinhard Bütikofer hat in der Frage der Atompolitik des Iran gesagt, eine Anreicherung des iranischen Urans in Russland sei ein »vernünftiger Vorschlag«? Vertreten die Grünen die Formel: Alle Atomkraftwerke abschalten – außer im Iran?

Nein. Es geht darum, dass der Iran nach dem Atomwaffensperrvertrag Uran zum Zwecke der friedlichen Nutzung der Atomenergie anreichern darf. Ihm das zu untersagen, wäre völkerrechtlich einigermaßen verwegen. Gleichzeitig wissen wir, dass viele Länder, nicht nur der Iran, Uran in erster Linie nicht aus energiepolitischen Gründen anreichern wollen, sondern aus sicherheitspolitischen. Sie wollen alle behandelt werden wie Nord­korea. Das ist einer der Gründe, warum nach unserer Auffassung der Nichtverbreitungsvertrag sicherheitspolitisch ergänzt werden muss durch Regeln, dass die Urananreicherung generell internationalisiert wird. So kann unterbunden werden, dass unter dem Vorwand der friedlichen Nutzung eine gezielte Hochrüstung betrieben wird, um die Fähigkeit zur nu­klearen Kriegsführung zu erlangen. Das ist auf der Basis des geltenden Nichtverbreitungsvertrages nach unserer Auffassung der einzige Weg, das Schlupfloch zu schließen, das es regelmäßig, siehe am Beispiel Indien, Staaten ermöglicht, Atommächte zu werden.

interview: stefan wirner