Leon muss Pipi

Kinderwagenschiebezeit

Jetzt geht das wieder los. Sobald das Wetter in Berlin kurze Zeit nicht aus peitschendem Regen und eisigem Stalingradwind besteht, rotten sich große Men­schenmengen eigens zu dem Zweck zusammen, die städtischen Grünflächen zu bevölkern. Meist führen sie ihre jeden Strauch anpinkelnden Hunde oder ihre ebenso allerorts ihre Notdurft verrichtenden Sprösslinge mit sich. Nicht einmal am entlegensten Zipfel eines Parks kann man sich dieser Tage in Ruhe niederlassen, um entspannt in seinem Schopenhauer-Brevier zu blättern, ohne dass sich nervenzerfetzendes Kindergequengel, sinnloses Hundegebell oder hysterisches Elterngeplapper erhöbe.

Daran ist die Sonne schuld, »die gelbe Sau« (Peter Licht), die unbarmherzig herniederscheint und sämtliche Leute, von denen man bei angenehm menschenfeindlichen Temperaturen verschont war, in die Grünanlagen lockt. Leute, die den Endzweck ihres Daseins im Erschaffen und Betreiben einer Familie sehen. Dort machen sie sich dann breit, marschieren wichtigtuerisch umher und geben harsche Kommandos an ihre nicht weniger unerträgliche Brut: »Leon! Leon! Nicht anfassen! Das ist pfui!« So reden im 21. Jahrhundert erwachsene Menschen mit ihren Kindern.

»Leon kann jetzt schon ganz allein aufs Töpfchen!« keift die fanatische Mutter ihrer ebenfalls ein sichtlich verwirrtes Kleinkind neben sich her zerrenden Begleiterin zu. Leon kann jetzt allein aufs Töpfchen. Eine das Weltgeschehen erschütternde Mitteilung. Die Geschichte muss umgeschrieben werden.

Selbst wenn man sich mit seinem Buch am äußersten Rand des Parks zwischen meterhohem Dickicht versteckt, findet in der Regel irgendein Kinderwagenschieber oder schreiender Rotzlümmel seinen Weg in den zuvor noch gottverlassenen Winkel.

»Papi! Ich will ein Eis!« »Papi, ich muss Pipi!« »Papi, guck’ mal, ein Wauwau!« (Der erstaunlich vorausschauende Hund nimmt rasch und angstvoll winselnd Reißaus) »Papi, schau mal, was ich kann!« (Der Kleine wirft besinnungslos einen seiner Schuhe durch die Gegend und wird für derlei Unsinn von seinem Erzeuger heftig gelobt.) »Papi, schau mal, was macht der Mann denn da!?«

»Der Mann liest ein Buch, mein Herzchen.« Nein, mein Herzchen, der Mann liest jetzt, in diesem Augenblick, kein Buch mehr, weil er von einem kleinen Monstrum, das achtlos einen Schuh umherwirft, daran gehindert wird.

Schlimm sind auch die Pärchen. Sie sind überall. Kaum blickt man nichtsahnend von seiner Lektüre auf, hat man unwillkürlich eines von ihnen im Blick. Besessen vom Glauben, dass der letztgültige Sinn des Lebens im Händchenhalten besteht, stapfen sie durch die Gegend mit einem verklärten Lächeln, das ihre Gesichtszüge aufs Widerwärtigste entstellt. Sie tragen diese Zwangsgutelaune zur Schau, die man von Menschen kennt, die bereits Kinder haben. Der perverse Wunsch nach einer Schwangerschaft hat sich unbemerkt in ihrem Unterbewusstsein festgefressen, ohne dass die bedauernswerten Kreaturen etwas davon wüssten. Dabei führen sie Gespräche, von denen jeder einigermaßen mit Verstand gesegnete Mensch verschont bleiben möchte: »Das war so süß von dir, Schätzchen, dass du neulich Würstchen im Schlafrock für mich gemacht hast.« »Aber das habe ich doch gern gemacht, mein Eichhörnchen.« Man wird nicht umhinkönnen, geduldig auf den Oktober zu warten.

thomas blum