Melancholie und Integration

Zur Aktualität der Psychoanalyse von michaela wünsch

Melancholisch ist, wer eine begehrte Person verloren hat und diesen Verlust nicht betrauern kann, weil er sich nicht von ihr trennen kann oder das Begehren verboten wurde. Die melancholische Reaktion auf den Verlust ist, das Liebesobjekt in das eigene Selbst einzuverleiben und zum Über-Ich zu machen, statt den Verlust traurig zuzugeben. Als Über-Ich wird das einverleibte Objekt zum Sitz von Schuld und Strafe oder von Identifizierung, das heißt, man selbst wird wie die Person, die verloren wurde. So entstehen heterosexuelle Männer und Frauen. Weil ein Mädchen seine Mutter (oder eine andere Frau) lieben, aber nicht begehren darf, wird sie wie die Mutter, also zur Frau.

In diesem Gedanken vermengte Sigmund Freud das Inzestverbot und den Ödipuskomplex (der auch immer bisexuell verläuft) mit seinen Beobachtungen, die er bei melancholischen Patientinnen und Patienten gemacht hatte. Denselben Gedanken greift Judith Butler in ihrem Konzept der melancholischen Geschlechtsidentifizierung auf. Eine hete­rosexuelle Geschlechtsidentität ist ihr zufolge das Produkt einer verbotenen, nicht eingestandenen und unbetrauerbaren Liebe und wird durch die fortdauernde Verleugnung des homosexuellen Begehrens gestärkt. Je männlicher ein Mann auftritt, desto vehementer wird er verleugnen, je einen anderen Mann geliebt und begehrt zu haben. Die Melancholie wird in diesem Konzept weniger als ein Gemütszustand gefasst, sondern als kultureller Prozess der Identifizierung, der sich aus einer Abwehr speist.

Diese Kultur der Geschlechtermelancholie beinhaltet, dass eine homosexuell begehrte Person nicht betrauert werden kann. Doch gerade angesichts der an Aids verstorbenen Schwulen muss eine Sprache der Trauer gefunden werden, die im Unterschied zur Melancholie nicht nur den Verlust anerkennt, sondern auch die Liebe, die diesem vorangegangen ist. Denn wenn die geliebte Person nicht öffentlich betrauert werden kann, führt ihr Tod bei den Verbliebenen, die sich als Homosexuelle nicht mit ihr nach dem Muster heterosexueller Melancholie identifizieren, zu Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen, im schlimms­ten Fall zum eigenen Todeswunsch, was vielleicht einen Aspekt des barebacking erklärt. Butler fordert daher eine öffentliche Trauer um Schwule und Lesben.

Während sie die melancholische Identifizierung nur auf Geschlecht und Sexualität bezieht, diskutieren José Esteban Muñoz, Anne Cheng oder David L. Eng die Politik der Trauer als racial melancholy. Sie fassen etwa die gescheiterte (und ebenso die vermeintlich erfolgreiche) Assimilation von Einwandererinnen und Einwanderern als Melancholie auf. Für diese ist Weiß-Sein, oder, auf hiesige Verhältnisse spezifiziert: »Deutsch-Sein«, ein Ideal, das sie zwar nicht erreichen, aber auch nicht aufgeben können. Die »Integrationsverweigerer« wären demnach diejenigen, die »Deutsch-Sein« am meisten begehrt, aber am deutlichsten erfahren haben, dass sie davon ausgeschlossen sind. Das »Deutsch-Sein« wäre in diesem Prozess jedoch als Sitz der Bestrafung bewahrt, die sich wiederum gegen diejenigen richtet, die ursprünglich am meisten »integrationswillig« waren. Ein Kreislauf, der nur dadurch aufgebrochen werden könnte, dass die Idee von »Deutsch-Sein« öffentlich erledigt wird.