Bagger und Barrikaden

In Berlin-Spandau streiken die Arbeiter des Baumaschinenherstellers CNH seit fast 80 Tagen. Das Werk soll geschlossen werden, aber die Streikenden haben ein Faustpfand: die fertigen Baumaschinen.

Vor dem Zaun ist das Streiklager aufgeschlagen, dahinter stehen die Baumaschinen. Viele haben platte Reifen. »Irgendwie sind die hier wohl über Nacht stillgelegt worden«, sagt Peter Lohse mit einem süffisanten Lächeln. Die Bagger, Radlader und Autobahnbaumaschinen sind das Faustpfand der Streikenden vom Berliner Werk des Unternehmens Case New Holland (CNH). Mehr als hundert fertige Maschinen stehen auf dem Werkshof. Die Geschäftsführung würde sie gerne an die Kunden ausliefern, die größtenteils schon für die Ware bezahlt haben, aber die Streikenden verhindern dies erfolgreich – schon seit über zweieinhalb Monaten.

Es sei einer der längsten Streiks in der Geschichte Deutschlands, sagen die Streikenden. Umso verärgerter sind sie, dass ihr Kampf so wenig wahrgenommen wird. Nur die Berliner Lokalmedien berichten ausführlich. In den überregionalen Medien, in ARD und ZDF wer­de der Arbeitskampf bewusst totgeschwiegen, da sind sich die Kollegen am Streikposten vor dem Haupttor in Spandau sicher. »Was sollen wir denn noch machen? Sollen wir erst jeman­den aufhängen?«, klagt ein Arbeiter, der an einem Gartentisch sitzt, an dem Skat gespielt wird.

Das Kartenspiel haben die Kollegen von der IG Metall bekommen, die hier nicht nur riesige Zelte, eine Bühne und ein Organisationsbüro aufgebaut hat, sondern sich vorbildlich um alles kümmert, was man bei einem so langen Aus­stand braucht, inklusive einer Tisch­tennis­plat­te und drei Kickern. Auch für das Streikgeld für die Ausständigen und die zahlreichen Regressforderungen der Geschäftsführung kommt die Gewerkschaft auf. Heizpilze für die Nacht und ein Cevapcici-Grill wurden aufgestellt, fast könnte man von einer Ferienlageratmosphäre sprechen. Doch es geht hier nicht um ein Freizeitvergnügen, den Arbeitern ist es mit ihrem Engagement völlig ernst.

Das Werk des Baumaschinenherstellers soll abgewickelt werden, das ist schon beschlossene Sache. Fiat, der italienische Mutterkonzern der CNH, schreibt zwar schwarze Zahlen, auch das Berliner CNH-Werk, aber weil die gewünschte Rationalisierung in Ita­lien nicht durchgesetzt werden konnte und Berlusconi Fiat ein Wahlkampfgeschenk von 14 Millionen Euro gemacht habe, mit der Bedingung, die Arbeitsplätze in Ita­lien zu er­halten, müssten nun eben die Berliner Kollegen dran glauben. So stellt es jedenfalls Peter Lohse dar. Der 47 Jahre alte Vorarbeiter ist seit 30 Jahren bei der CNH, vormals Orenstein & Koppel (O & K). Mit 17 Jahren habe er hier an­gefangen, erzählt er. Sollte er jetzt sei­nen Job verlieren, sieht er für sich kaum eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt. Das geht vielen der anderen 400 Betroffenen ähnlich, das Durchschnittsalter der Belegschaft liegt zwischen 40 und 55 Jahren.

So ist wohl die Ausdauer zu erklären, die die Arbeiter der CNH in Spandau an den Tag legen. Drei Tore bewachen sie rund um die Uhr, nun schon seit fast 80 Tagen. Streikbrecher, vor allem die nicht von der Abwicklung betroffenen Mitarbeiter der Konstruktionsabteilung, wurden anfangs am Zutritt gehindert. Die Streikenden fuh­ren Baumaschinen vor die Tore, und die Streikbrecher mussten durch eine Gasse pöbelnder Kollegen zu ihrem Ar­beitsplatz gehen. Es folgte eine Strafanzeige gegen 15 Mitglieder des Betriebsrats. Das Gericht beschloss einen Vergleich, wonach ein 5,5 Meter breiter Zugang offen gelassen werden muss. Für die Streikbrecher ist der Weg zur Arbeit trotzdem kein Vergnü­gen, denn auf einer großen Tafel haben die Streikenden Fotos von den nicht streikenden Kollegen aufgeklebt – wie auf einem Fahndungsplakat: »Streikbrecher« steht darüber.

Schon fünf Mal hat die Geschäftsführung versucht, fertige Baumaschinen aus dem Werk zu schaffen, doch sobald sich ein verdächtiger LKW dem Gewerbegebiet nähert, lösen die Streikposten eine Telefonkette aus, und innerhalb kürzester Zeit stehen 400 Men­schen vor dem Tor und verhindern den Abtransport. Ein ungarischer Kunde, der verzweifelt auf seine bereits bezahlte und offen­bar dringend benötigte Ware wartet, hat den Streikenden pro Gerät, das sie durchlassen, zwei Wochen Urlaub mit Halbpen­sion am Balaton für jeweils zwei Familien versprochen. Doch auch davon ließen sich die Arbeiter nicht beeindrucken. Sie kippten einen Haufen Sand neben das Werkstor und stellten ein paar Liegen und Sonnenstühle auf. »Wir haben unseren eigenen Balaton hier«, sagt Lohse grinsend und blinzelt in die heiße Mittagssonne. Zu Streikbeginn sah das hier noch ganz anders aus: »Da waren es nachts mitunter minus 25 Grad, aber der Zusammenhalt zwischen den Kollegen ist trotzdem von Tag zu Tag größer geworden.«

In dem großen Festzelt der IG Metall spielt Yvonne Koch mit zwei Kollegen Kicker. Sie ist seit elfeinhalb Jahren im Betrieb beschäftigt, zuerst als Elektrikerin, seit zwei Jahren als Chefsekretärin. Sie wohnt nur fünf Minuten vom Werk entfernt und verbringt praktisch jede freie Minute, nicht nur die ihr zugeteilten Schichten, in dem Streikcamp. Vor dem Streik war sie nur Gele­genheitsraucherin, inzwischen raucht sie ein bis zwei Schachteln Zigaretten am Tag. Für sie ist der Streik ein ganz großes Erlebnis. Nicht nur, dass sie quasi rund um die Uhr auf dem Posten ist, sie war auch bei allen Aktionen der Streikenden dabei, etwa am 11. April, als sie ein 1,2 Kilometer langes Transparent rund um den Platz der Republik vor dem Reichstag spannten. Auch nach Paris ist sie mitgefahren. Dort hat sie mit ihren Kollegen auf der Bau­maschinenmesse vor dem Stand der New Holland demonstriert. Und am 30. April brach die agile Sekretärin mit 50 Kollegen zum nächsten Kurztrip auf, diesmal nach Turin, dem Sitz der Fiat-Zentrale. »Im Bus 14 Stunden hin, 14 Stunden zurück, das war sehr anstrengend«, sagt sie. Aber es habe sich gelohnt. Auf der 1. Mai-Demonstra­tion dort habe es reges Interesse für ihren Arbeitskampf gegeben.

Die italienischen Fiat-Kollegen seien sehr solidarisch. Sie hätten sogar für die Streikkasse der Berliner gesammelt, sagt Yvonne Koch. Dennoch vergingen vier Wochen, bis die ersten Solidaritätsbekundungen eintrafen. Schneller kam die Unterstützung aus dem Inland. Auf einer Stelltafel im Streikzelt hängen unzählige Solidaritätserklärungen und Briefe von Politikern und Prominenten. Die Betriebsräte von Daimler, Audi und Ekostahl wünschen Erfolg für den Kampf. Die Spandauer SPD, die KPD, Rebell, der Jugendverband der MLPD, die anarchistische Freie Ar­beiterInnen-Union haben Schreiben geschickt. Auch der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Volker Kauder, erklärt sich vorsichtig solidarisch. Die »Historische Spandauer Stadtgarde«, eine Trommler-Truppe in preußischen Uniformen, hat 100 Euro für die Streikkasse gespendet.

Auch Besuch erhalten die Streikposten oft. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit von der SPD war da, sein Konkurrent Friedbert Pflüger von der CDU, Gregor Gysi von der Linkspartei, der Schauspieler Rolf Becker, Oskar Lafontaine, Wolfgang Thierse – es braucht kein bestimmtes ideologisches Profil, um sich für deutsche Arbeitsplätze einzusetzen, in dieser Frage ist man sich in allen poli­tischen Lagern einig. Einen Standort bewahren, das ist quasi ein nationales Anliegen. Dass ein kurzhaariger Streikposten am Haupttor in schwarzen Klamotten und mit Oberarmen wie Baumstämmen eine Halskette mit Thor-Hammer trägt, einem klassischen Nazi-Emblem, scheint ebenfalls keinen der Kollegen zu stören. Nur von Michael Schu­macher kam noch keine Antwort. Dabei haben die CNH-Arbeiter ihm einen sehr engagierten Brief geschrieben, in dem sie ihm zu seinem Sieg in San Marino gratulierten und ihn daran erinnerten, dass er »aus demselben Stall« komme wie sie – näm­lich von Fiat.

Ortswechsel an die Georg-Schlesinger-Schule in Reinickendorf. Bernhard Bleiber, der Schul­leiter des Oberstufenzentrums, und Helmut Miethe, Fachbereichsleiter Sozialkunde, sitzen im Rektoratszimmer. Eigentlich darf Bleiber nicht mit der Presse sprechen, seitdem er vom Bildungssenator Redeverbot auferlegt und ein Disziplinarverfahren angehängt bekam, nur weil er öffentlich auf den Geld- und Personalmangel an seiner Schule aufmerksam gemacht hatte. Doch er hat offensichtlich ein Interesse daran, sich zu äußern. Denn auch seine Schule ist von der Schließung der CNH betroffen. Ins­gesamt 25 seiner Schüler sind Auszubildende im Spandauer Werk, sieben von ihnen stehen direkt vor der Prüfung. Für sie bedeutet die Schließung des Standorts, dass sie sich einen neuen Ausbildungsplatz suchen müssen, wobei ihnen die Industrie- und Handelskammer helfen wird. Zumindest die so genannten Insolvenzlehrlinge, die bereits die ersten beiden teuren Lehrjahre hinter sich haben, sind bei den Unternehmen sehr beliebt. »Die Azubis werden regelrecht verkauft«, empört sich Bleiber, der sich für seine Schützlinge verantwortlich fühlt.

Die Situation ist für die Azubis »total frustrierend«, weiß der Sozialkundelehrer. »Die haben zum Teil 60, 70 Bewerbungen geschrieben und waren froh, endlich einen Ausbildungsplatz gefunden zu haben.« Wie solle man sie jetzt motivieren weiterzumachen, wenn die Perspektive für ihre Ausbildung ungeklärt ist und eine Übernahme durch den Betrieb von vornherein ausgeschlossen? Ohnehin sinke die Motivation der Schüler ständig, sagt Miethe, weil sie merkten, dass sie auch bei erfolgreicher Schul­laufbahn nicht mit einem Arbeitsplatz rechnen können. »Das schlägt sich in den wachsen­den Fehlzeiten nieder«, fügt er fast etwas resigniert hinzu.

Weil Azubis nicht streiken dürfen und daher auch keinen Anspruch auf Streikgeld haben, und auch weil die Kollegen der CNH ihnen nicht die letzten Chancen für ihre Zukunft nehmen wollen, arbeiten die Azubis in den Werkshallen in Spandau während des Streiks weiter, sie gelten nicht als Streikbrecher. Im Gegenteil: Sie haben sich solidarisch mit dem Streik erklärt, und auch in der Schule spielt der Arbeitskampf eine große Rolle. Miethe erzählt von einem Projekttag mit vier Klassen, bei dem man sich mit den »Folgen der Globalisierung« und der Situation der betroffenen Azu­bis beschäftigt habe. In einer dritten Arbeitsgemeinschaft seien Plakate und Transparente für den Streik gemalt worden, die die Azubis dann nach Span­­dau gebracht hätten.

Von einer allgemeinen Politisierung der Lehrlinge wollen die beiden Pädagogen dennoch nicht sprechen. Die­jenigen Schüler, die sich auch vorher schon für gesellschaftspolitische Themen interessiert hätten, würden sich jetzt vermehrt engagieren und hätten erkannt, dass sie sich wehren müssten, doch viele andere Schüler seien nur noch frustriert.

Zurück in Spandau. Peter Lohse zeigt stolz auf die wenigen roten Baugeräte im ansonsten gelb und ocker gehaltenen Fuhrpark der CNH. Rot sei das Markenzeichen der O & K, es stamme also aus der Zeit, bevor das Unternehmen im Jahr 2000 von New Holland übernommen wurde. Der Ruf der O & K sei gut gewesen, schwärmt Lohse, und irgendwie scheint er die Übernahme und die Umbenennung für den Niedergang des Unternehmens verantwortlich zu machen. Dabei war die Transaktion unternehmerisch gesehen ein Erfolg, nur nutzt das den Arbeitern im Spandauer Werk leider gar nichts.

Überall im Streikcamp sieht man das alte O & K-Emblem, auf jedem Transparent prangt es. Lohse und seine Kollegen legen viel Wert auf die lange ruhm­reiche Konzern­geschichte, die mit dem Bau von Lokomo­ti­ven und Waggons bereits 1876 begann. Dass das Unternehmen 1940 arisiert wurde und als Produzent von kriegswichtigem Gerät ab dem Jahr 1942 ein ständig voll besetztes Arbeitslager mit 1 680 Zwangs­ar­bei­tern unterhielt und die Verstorbenen teilweise auf dem damaligen Firmengelände verscharrt wurden, erwähnt Lohse nicht.

Es ist gut möglich, dass er es auch gar nicht weiß. Denn auch in der offiziellen Firmenchronik der CNH klafft zwischen den Jahren 1926 und 1945 eine Lücke. Man verweist lieber auf das vermeintliche Image des Unternehmens heute. Die Tatsache, dass im kommenden James-Bond-Film »Casino Royale« elf Baumaschinen der CNH zu sehen sein werden, feiert man in der Pressestelle des Unternehmens mit fadenscheinigen Vergleichen: »Es gibt eine Reihe von Ähnlichkeiten zwischen James Bond und New Holland.« Dazu zählt man nicht nur die »ruhmreiche Vergangenheit«, auch seien Bond und New Holland gleichermaßen »zuverlässig und loyal, vertrauenswürdig und solide und sie lieben leidenschaftlich ihren Job«.

Und letztgenanntes stimmt. Auch Pe­ter Lohse liebt seinen Job leidenschaftlich. Doch es ist eine Leidenschaft, von der er wohl bald wird Abschied nehmen müssen. Denn dass der Streik die Fir­men­zentrale umstimmen wird, daran glauben auch die Streikenden nicht mehr. So geht es denn neben der offiziellen Forderung nach Erhalt des Spandauer Werks auch längst schon um einen Sozialvertrag für die Entlassenen. Aber auch hier stellt sich die Konzernleitung bisher stur. Ein schnelles Ende des Streiks ist daher nicht absehbar, die Arbeiter haben nichts zu verlieren – und sie haben die Baugeräte als Faustpfand. Vielleicht ihr stärkstes Argument.