Wer der Terrorist ist

Vor einem Jahr erschossen usbekische Soldaten mehr als 700 Demonstranten. Präsident Karimow leitete danach eine Abkehr vom Westen ein, Deutschland allerdings darf seinen Militärstützpunkt behalten. von benjamin beutler

Die meisten Angehörigen der Opfer schweigen aus Angst vor Repressalien. Im Untergrund aber kursieren Kassetten mit einem verbotenen Lied des Musikers Dadakhon Hasanow: »Es gab ein Massaker in Andijan.« Das Lied beschreibt, wie am 13. Mai 2005 Soldaten mit Kalaschnikows auf unbewaffnete Demonstranten und Passanten schießen. Männer, Frauen und Kinder sterben zu Hunderten, sie fallen »wie helle rote Tulpen« zu Boden.

Vor einem Jahr kam es in Andijan nach der Festnahme von mehreren Mitgliedern einer Jamiat zu Massenprotesten. Die Jamiat sind Selbsthilfeverei­ni­gungen, die dort aktiv werden, wo es an staatlicher Infrastruktur und Dienstleistungen mangelt, sie bieten Hilfe in sozialen Notlagen und schaffen Arbeitsplätze. Die Anklage hatte den Verhafteten Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation vorgewor­fen, die von der Regierung als »Akramiya« bezeichnet wird. Akram Yuldashew sitzt noch immer im Gefängnis, weil er im Jahr 1992 eine re­ligiöse Schrift mit dem Titel »Pfad zum Glauben« verfasst hat. Die nach ihm benannte Organisation soll in Verbindung zu der verbotenen Is­lamistengruppe Hizb al-Tahrir stehen.

Noch am Tag der Festnahmen wurde das örtliche Gefängnis gestürmt. Die Gefangenen wurden befreit, die Protestierenden besetzten zahlreiche Verwaltungs­gebäude. Die anrückende Armee bekämpfte nicht nur die Aufständischen, sondern metzelte die Demonstranten nieder. Menschenrechtsorganisationen schätzen die Zahl der Toten auf mehr als 700. Prä­sident Islam Karimow rechtfertigte die brutale Reaktion damals als antiterroristische Maßnahme, die Akramiya habe mit ausländischer Hilfe einen Umsturz geplant, um im Ferghana-Tal einen Kalifenstaat zu errichten. Beweise für die angebliche Verschwörung gibt es nicht. »Wir haben gesehen, wer der Terrorist ist, und wir sind voller Wut und Zorn«, singt Hasanow in seinem Lied.

»Die Jamiat wollen keinen islamischen Staat errichten. Was sie wollen, ist eine wichtigere Rolle islamischer Werte in der Gesellschaft«, sagt der kirgisische Journalist und Politikwissenschaftler Alisher Khamidov. Die Jamiat seien nicht islamistisch. »Nur weil diese Leute einen größeren Einfluss des Islam wünschen, bedeutet das nicht, dass sie die Sharia ein­führen.« Indem die autoritäre Regierung die Jamiat als extremistische Gruppen und Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle, schaffe sie eine fiktive Ausnahmesituation, die es ihr ermöglicht, »politische Gegner ins Visier zu nehmen und notwendige Reformen zu verschieben.«

Reformen aber wären dringend nötig. Usbekistan ist auch im regionalen Vergleich arm, das Bruttoinlandsprodukt beträgt 310 Dollar pro Kopf, im Nachbarland Kasachstan sind es 1520 Dollar. Fast ein Drittel der Bevölkerung ist arbeitslos oder un­terbeschäftigt, die Einkünfte von Millionen Usbeken hängen vom informellen Sektor ab. Doch die florierende Schattenwirtschaft wurde durch Schließung mehrerer Märkte beeinträchtigt.

Der entstandene Unmut kann wegen der Zensur nicht öffentlich zum Ausdruck gebracht werden, auf der Liste der pressefeindlichsten Staaten des Committee to Protect Journalists belegt Usbekistan Platz acht. Karimow regiert das Land seit dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991, sein autokratisches und korruptes Regime behindert auch die wirtschaftliche Entwicklung. Seine Reformen dienen allein der noch stärkeren Konzentration von Ressour­cen und Macht in den Händen der Oligarchie, die Klientelismus und Clanstrukturen nutzt und sich die Loyalität bestimmter Regionen erkauft, um ihre Herrschaft zu sichern.

Wie in autoritären Staaten üblich, misstraut die politische Führung allen Ansätzen unabhängiger Organisierung, die auch dann als Bedrohung betrachtet werden, wenn sie sich nicht gegen das Regime rich­ten. Protest gilt als Verschwörung, das Regime reagiert mit Maßnahmen stalinistischer Art. Die vermeintlichen Rädelsfüh­rer des Aufstandes, allesamt Oppositionelle, Menschenrechtler und Dissidenten, haben nach unfairen Prozessen offenbar durch Folterungen erpresste Geständnisse abgelegt, die dem Wortlaut der Anklage entsprechen, und den Präsidenten öffentlich um Entschuldigung gebeten. Anschlie­ßend wurden sie zu hohen Haftstrafen ver­urteilt. Manche wurden auch, wie Elena Urlaewa von der Freien Bauernpartei, in der Psychiatrie interniert und einer pharmazeutischen Zwangstherapie unterzogen.

Die westlichen Staaten haben die repressive Politik Karimows lange toleriert, Usbekistan war ein wichtiger Partner der USA im »Krieg gegen den Terror«. Erst nach dem Massaker von Andijan wurde deutlichere Kritik geäußert. Karimow nahm das zum Anlass für eine wahrschein­lich ohnehin beabsichtigte außenpolitische Wende. Er kündigte den Vertrag mit den USA über die Nutzung des Militärflughafens Khanabad und schloss im November 2005 einen militärischen Beistandspakt mit Russland, der gegenseitige Hilfe im Falle einer Aggression garantiert. Russ­land kann seitdem auf die Übernahme des ehemaligen US-Stützpunkts hoffen. Auch wirtschaftlich reorientiert sich das Regime, die Tochter des Präsidenten und dessen mögliche Nachfolgerin, Gulnora Karimowa, knüpfte Kontakte zwischen dem staat­lichen Energiekonzern Uzneftgaz und dem russischen Konzern Gazprom. Das Volumen des russisch-usbekischen Handels stieg offiziellen Angaben zufolge in den vergangenen drei Monaten um knapp 25 Prozent.

Deutschland allerdings bleibt ein treuer Partner Karimows. Die Bundesregierung teilte im April stolz mit, sie habe den »Dialog mit Usbekistan wieder aufgenommen«. Als einziger Staat der Europäischen Union stimmte Deutschland gegen die Visabeschränkungen für ranghohe usbekische Offizielle, aus »humanitären Gründen« wurde dem damaligen Innenminister Zakirjan Almatow, der sich einer Krebstherapie unterziehen wollte, die Einreise gestattet.

Das Wohlwollen wurde belohnt: Die Bundeswehr darf ihren für den Einsatz in Afghanistan wichtigen Flughafen Termez behalten. Zudem bestehen beste Geschäftsbeziehungen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie rechnet mit zweistelligen Zuwachsraten im bilateralen Handel. »Ge­rade in Situationen politischer Spannungen können Wirtschaftskontakte Gesprächskanäle offen halten und Brücken bauen«, meint Klaus Mangold, der Vorsitzende des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft.

Um die offenen Gesprächskanäle bemüht sich insbesondere die Siemens AG. Sie liefert der usbekischen Regierung digitale Telefonanlagen und wirbt stolz damit, dass es möglich sei, mit ihren Produkten »alle Formen der Telekommunikation zu überwachen und aufzuzeichnen«. Das dürften die Geheimsdienstler Karimows gerne hören.