»Wir sehen uns im Gefängnis!«

Die Polizei ging mit großer Brutalität gegen Blumenhändler vor, danach eskalierte in der mexikanischen Stadt Atenco die Lage. von marius boch und marco pulquo

Dichter schwarzer Qualm steigt aus einem Haufen alter Autoreifen auf der Straße empor. Wenn der Wind dreht, dringt uns der Gestank in die Nasen und nimmt uns den Atem. »Wisst ihr, dass bei der Verbrennung von Gummi giftige Gase entstehen?«, fragt ein Student. Niemand geht darauf ein. Alle sind müde. Und nachts kann es sehr kalt sein in Mexiko. Wir rücken näher zusammen, María nimmt mich in die Arme.

Wir hatten uns am späten Nachmittag im unabhängigen Medienzentrum in Mexiko-Stadt getroffen. Ein paar Studenten von der Universidad Nacional Autónoma de México (Unam) und eine Handvoll Punks, die mit der »Anderen Kampagne« der zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN) in die Hauptstadt gekommen waren (Jungle World 19/06). Zwei Leute brachten gerade die Internetseiten des Medienkollektivs auf den neuesten Stand, die anderen tranken Bier oder schlürften Kaffee. Doch dann kam eine Nachricht übers Netz, die dem entspannten Beisammensein ein En­de machte. In San Salvador Atenco nordöst­lich von Mexiko-Stadt war es am Morgen zu blutigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und einer Gruppe von Straßenhändlern und Campesinos aus dem benachbarten Texcoco gekommen. Ein Jugendlicher sei getötet worden. Noch wusste niemand genau wie, die Gerüchte überschlugen sich. Von einem zweiten Opfer war die Rede, von Polizisten, die als Geiseln genommen wurden. Wir waren aufgeregt, wussten aber nicht, was zu tun sei.

Am selben Tag, es war Mittwoch der 3. Mai, verurteilt Subcomandante Marcos, Sprecher der EZLN, auf dem Platz der Drei Kulturen in Tlatelolco den Polizeieinsatz. Für die von den Zapatisten verwalteten Gebiete im Bundesstaat Chiapas und die zapatistischen Truppen ruft er die »Alarmstufe Rot« aus. Dann fordert er die Versammelten auf, sich am nächs­ten Morgen mit den Menschen in Atenco zu solidarisieren: »Organisiert Straßenblockaden, Flugblätter, Malaktionen, geordnet und friedlich. Atenco darf nicht alleine bleiben!«

Wir machten uns auf den Weg in das Dorf, ohne zu wissen, was uns erwartete. Es war schon dunkel, als wir an einer Straßensperre kurz vor Atenco auf eine Gruppe älterer Frauen mit Macheten stießen. Wir blieben bei ihnen und sie erzählten uns, was sich in Texcoco ereignet hatte. Die Stadtverwaltung hatte den Campesinos, die seit Jahren Blumen auf dem Mercado Belisario Dominguez verkauften, mitgeteilt, ihre Stände künftig an­dernorts aufbauen zu müssen. Die Blumenhändlerinnen hatten aber erneut eine Genehmigung erstritten. Als die Frauen versuchten, ihre Marktstände aufzubauen, gingen Polizisten mit Schlagstöcken, Tränengas und Schusswaffen gegen sie vor. Die Händlerinnen und Mitglieder der Campesino-Organisation »Front der Gemeinden zur Verteidigung der Erde« (FPDT) aus Atenco antworteten mit Macheten und Mo­lotowcocktails. Nach stundenlangen Straßenkämpfen waren über hundert Menschen festgenommen, zahlreiche Beteiligte verletzt und der vierzehnjährige Francisco Javier Cortes von der Polizei erschossen worden. Die Aufständischen hatten elf Polizisten entführt.

Nach der Rede des Subcomandante veröffentlicht die EZLN einen Aufruf, in dem sie die im Landkreis Texcoco regierende Partei der Demokratischen Revolution (PRD) und die Regierungs­partei des Bundesstaates Estado de México, die Partei der Institutionellen Revolution (PRI), beschuldigt, für die Unruhen und den Tod des Jugendlichen in Texcoco verantwortlich zu sein: »Die Allianz zwischen PRD und PRI veranlasste die Räumung des Blumenmarktes, da er dem Landrat von Texcoco zu häss­lich für das Stadtbild erscheint. Er hätte dort lieber ein Einkaufszentrum und einen Wal-Mart.«

Am Abend wurde es ruhiger in der Stadt. An den Straßen nach Atenco wurden wei­tere Sperren errichtet, um die Bundespolizei aufzuhalten. Essen wurde verteilt. Aber die Angst vor einem Angriff auf Atenco, wohin sich die meisten Demonstranten zurückgezogen hatten, war überall zu spüren. In den folgenden Stunden wurde Benzin in Flaschen gefüllt und die Reifenbarrikaden wurden erweitert.

Seitdem sitzen wir an der Schnellstraße und warten auf die Polizei. Langsam dämmert der Morgen. Es ist Donnerstag, der 4. Mai. Ich betrachte die Umrisse der beiden Lastwagen, mit denen die Straße blockiert ist. Ich lege meinen Kopf in Marias Schoß. Dann fallen mir die Augen zu.

In der Nacht zum Donnerstag treffen sich in Mexiko-Stadt die Kommandeure der ver­schiedenen Polizeieinheiten, um die Erstürmung des besetzten Dorfes zu planen. Leiten soll den Angriff der Vorsitzende der staatlichen Sicherheitskommission, Wil­fre­do Robledo. 3 500 Polizisten werden mobilisiert, die Bundespolizei und Spezialeinheiten nicht mitgezählt. Robledo ist ein erfahrener Mann. Im Februar 2000 hat er den Streik der Studenten an der Unam nie­dergeschlagen. Auch der brutale Polizeiein­satz während des Weltwirtschaftsforums in Cancún trägt seine Handschrift.

Der Knall von Signalraketen reißt mich aus dem Schlaf. In dichten Reihen marschieren schwerbewaffnete Polizisten in Kampfmontur auf uns zu. Gasgranaten werden abgefeuert. Gewehrschüsse sind zu hören. Hubschrauber tauchen in niedriger Höhe auf. Einige von uns rennen in Panik davon, andere greifen zu den Molotowcocktails. »Wir sehen uns im Gefängnis«, ist Marías letzter Satz, dann verlieren wir uns im Tränengasnebel. Ich renne orts­einwärts. Mit Berenice, einer Studentin, flüchte ich mich in einen Rohbau am Straßenrand. Hinter einer schwarzen Rauch­säule geht langsam die Sonne auf. Auch hier ist das bedrohliche Geräusch der Helikopter zu hören, die über der Straße stehen. Auf dem Flachdach des gegenüber liegenden Hauses befinden sich Menschen, die das Geschehen beobachten. Berenice fragt mit Handzeichen, ob sie uns hineinlassen würden. Sie winken uns zu, und wir laufen hinüber.

In Mexiko-Stadt werden Straßenblockaden errichtet. Am Kilometer 17,5 der Bundesstraße nach Atenco haben sich kurz nach Sonnenaufgang schon über 300 Menschen versammelt. Die ersten Reihen der Blockierer sind nur einen Steinwurf von den Plastikschilden der Bundespolizei entfernt. Als die Polizei vorrückt, laufen plötzlich zwei Busfahrer zu ihren Fahrzeugen, starten die Motoren und fahren die Fahrzeuge zwischen die »Ordnungs­kräfte« und die Demonstranten. Die Polizei zieht sich wieder zurück. An den Bussen werden Transparante angebracht: »Wir alle sind Atenco.« Die Busfahrer stehen daneben, rauchen gelassen eine Zigarette: »Hatten wir denn eine andere Wahl? Die hätten die Leute doch sonst überrannt.«

Ein Hof mit Kampfhähnen in win­zigen Käfigen. Ein Mann, eine junge und eine alte Frau, vier oder fünf kleine Kinder. Die alte Frau rät uns, lieber eine Familie zu gründen, als unseren Müttern Sorgen zu bereiten. Irgendwie kommt mir das bekannt vor. Aber wir sind dankbar, dass sie uns hilft. Käme die Polizei, würde auch sie Schwierigkeiten bekommen. Der Mann mag die Polizei nicht, aber auch nicht die FPDT, weil die Organisation seiner Meinung nach Konflikte in die Stadt hineintrage. Er hat sich vor vier Jahren an den Protesten beteiligt, mit denen die geplante Erweiterung des hauptstädtischen Flughafens auf das Gebiet Atencos verhindert wurde. Heute möchte der Mann lieber seine Ruhe.

Die Polizei nimmt Ignacio del Valle, den Sprecher der FPDT, in einem Haus in Atenco fest. Fotoreporter werden Zeugen, wie er von zwei maskierten Polizisten abgeführt wird. Del Valles Kopf ist zum Teil mit einem Tuch bedeckt, unter dem sein blutiges Gesicht hervorragt. Del Valle hat bereits im Jahr 2002 die Protestbewegung gegen den Ausbau des Flughafens mit angeführt und noch vor wenigen Tagen, am 1. Mai, den Personenschutz für Subcomandante Marcos in Mexiko-Stadt geleitet. Nun fordert der Gouverneur des Estado de México, Enrique Peña Nieto, lebenslange Haft für den »Entführer« und »Kriminellen«.

Um sieben Uhr schalten unsere Gastgeber die Fernsehnachrichten an. Ein Sprecher der Regierung des Bundesstaates Estado de México begründet den harten Einsatz mit der Notwendigkeit, die gefangenen Polizeibeamten aus den Händen der Aufrührer zu befreien. Dann folgt ein Live-Bericht aus Atenco. Wir hören die dumpfen Explosionen der Gasgranaten, die Rotoren der Hubschrauber, die Schreie von Men­schen, sehen, wie sie zusammengeschlagen und auf Pritschenwagen geworfen werden. All das ereignet sich in diesem Moment nur we­nige Straßen entfernt von uns. Wir sehen die schrecklichen Bilder, von draußen dringt der Originalton herein.

Gegen neun Uhr haben die Polizeiverbände Atenco vollständig eingenommen. Wem es nicht gelingt, sich vorübergehend in ein Haus zu flüchten, der wird festgenommen. In den folgenden Stunden wird der Ort systematisch durchkämmt. Türen werden eingetreten, die Häuser nach Geflohenen durchsucht und zum Teil verwüstet. Sechs Tage später werden drei Beamte der Staatspolizei im Radiosender Canal 40 aussagen, man habe ihnen befohlen, auf alles einzuprügeln, was sich bewegt. Auch der Gebrauch von Schußwaffen sei ausdrücklich gestattet worden.

Nach zwei oder drei Stunden findet sich ein hilfsbereiter Nachbar, der uns mit seinem Auto zur Universität Chapingo in Texcoco bringt. Ich bin erleichtert, die Gefahr, bei einer Durch­suchung von den plappernden Kindern verraten zu werden, war groß. In Chapingo haben Studenten ein Informationszentrum eingerichtet, in dem Namen von Festgenommenen und Vermissten zusammengetragen werden. Ich suche auf den Listen nach María. Sie ist nicht dabei.

Am Abend treffen sich im hauptstädtischen Gewerkschaftslokal der »Union sozialistischer Arbeiter« verschiedene politische Gruppen und einige flüchtige Mitglieder der FPDT und beschließen, am kommenden Tag einen Protestmarsch nach Atenco zu organisieren. Auch die EZLN unterstützt dieses Vorhaben. Die Vor­be­reitungen beginnen.

Es muss inzwischen Nachmittag sein. Ich habe keinen Hunger, esse aber schließlich ein paar Kekse, die irgendwo herumliegen. Sie schmecken ekelhaft. Ich frage weiterhin jeden, den ich treffe, nach Maria. Irgendwann fahren wir zum Gefängnis Santiaguito in Toluca. Aber auch dort erfahre ich nichts über den Verbleib von Maria. Zurück in Mexiko-Stadt erzählt man mir, dass unter den festgenommenen Ausländerinnen auch Spanierinnen sein sollen. Jemand will Maria gesehen haben, in der Botschaft, kurz nur, und sie sei frei. Aber es ist nur eines von unzähligen Ge­rüch­ten. Am Freitagmorgen gibt es neue Listen und neue Hoffnungen. Neben den Namen von 63 Vermissten und 209 Festgenommenen steht auch die Zahl der inhaftierten Ausländerinnen und Ausländer: »5«. Ihre Identität ist noch nicht bekannt. Am Nach­mittag dann endlich die Namen. Auch der von María ist dabei.

Die wachsende Kritik an dem brutalen Polizeieinsatz in Atenco weisen die politischen Verantwortlichen zurück. Der mexikanische Präsident Vicente Fox verkündet mit ernster Mine, nur auf diese Weise habe man den »sozialen Frieden« wieder herstellen können. Gouverneur Peña Nieto weist eine generelle Kritik an dem Einsatz zurück und verspricht Aufklärung, »falls es denn unangemessene Aktionen der Polizei gegeben habe«. Sein Amtsvorgänger hat dagegen keine Kreide gefressen. »Miss­handlungen? Menschenrechtsverletzungen? Gab es nicht! Seit wann können Ratten Menschenrechte für sich in Anspruch nehmen?«

Im Informationszentrum erfahre ich, wohin die Ausländer gebracht worden sind. Die Estación Migratoria de Iztapalapa in Mexiko-Stadt ist eine Art mexikanische Ausländerbehörde. Ich finde ein Auto, das mich dorthin mitnimmt. Lange muss ich vor dem Gebäude warten, dann sehe ich María an einem Fenster. Wir versuchen, uns mit Handzeichen zu verständigen.

Um 17 Uhr setzt sich in Chapingo eine Bus- und Autokarawane mit rund 2 000 Menschen in Bewegung. Auf dem Marktplatz von Atenco angekommen, hat sich die Zahl der Teilnehmenden mehr als verdoppelt. Subcomandante Marcos spricht zu den Versammelten. Er kritisiert die Berichterstattung der Massenmedien, vor allem der beiden marktbeherrschenden Unternehmen Televisa und TV Azteca: »Auf den ersten Bildern von den Festnahmen konnte man eindeutig sehen, wie die Polizei Gefangene verprügelte, die bereits bewegungsunfähig waren. Am Abend war be­reits alles umgearbeitet, die prügelnden Polizisten waren nirgends mehr zu sehen. Wo sind diese Bilder geblieben?« Marcos zeigt fünf Gewehrpatronen. »Das hier wird von der unbewaffneten Polizei verschossen. Hier ist der Beweis dafür, wie unbewaffnet die Polizei gewesen ist; der Beweis dafür, was diesen jungen Compañero getötet hat.« Er bietet die Patronen den Journalisten von Televisa und TV Azteca als Beweis an, die weigern sich jedoch, sie anzusehen.

Ich wäre gerne zu der Demonstra­tion in Atenco gefahren. Meine Sorge, was mit Maria geschehen wird, ist jedoch größer. Auf das Gerücht hin, die Ausländer würden heute noch abgeschoben, fahre ich mit anderen Leuten zum Internationalen Flug­hafen. Dort weiß niemand etwas davon.

Erst am Samstag werden in den Nachrich­ten die Ausweisungen bestätigt. Außerdem wird berichtet, dass bei den zweitägigen Auseinan­dersetzungen in Atenco über 200 Menschen verhaftet worden seien. Ihnen wird neben der »Blockade öffentlicher Ver­kehrswege« teilweise auch »gemeinschaftliche Entführung« und gar der Mord an dem 14jährigen Jungen zur Last gelegt. Immer noch behauptet der Einsatzleiter Robledo, die Polizei sei unbewaf­fnet nach Aten­co gekommen.

Ich erreiche María in Barcelona. Sie erzählt mir am Telefon, was passiert ist: »Als die Polizei uns fand, drückten sie uns mit dem Gesicht zu Boden, zogen uns Kapuzen über und fesselten unsere Hände. Im Innenhof des Hauses wurden wir nach unserem Namen gefragt und gefilmt, man begann uns zu beschimpfen und zu schlagen. Anschließend warfen sie uns auf die Ladefläche eines Transporters, traktierten uns mit Schlagstöcken und traten auf uns ein. Uns Spanierinnen beschimpften sie als etarras, also als Mitglieder der Eta, und nannten uns »Nutten«. Später wurden wir auf ein größeres Fahrzeug umgeladen. Dort fielen sie über die Frauen her. Da wir Säcke über den Köpfen hatten, konnten wir nicht sehen, wer sie waren. Ich konnte nur die Stiefel der Polizisten erkennen, und dass der Boden voller Blut war. Und ich hörte die Schmerzens­schreie der anderen. Sie zerrissen unse­re Kleidung, und viele Hände begrapsch­ten meinen Unterleib. Versuchten wir, miteinander zu sprechen, schlugen sie uns. Erst im Gefängnis in Toluca nahm man uns die Säcke vom Kopf und die Handschellen ab. Sie drohten uns Haft­strafen bis zu einem Jahr an und zwan­gen uns, irgendwelche Dokumente und Erklärungen zu unterschreiben. Auf der Migrationsbehörde bekamen wir Besuch vom spanischen Konsul. Wir erzählten ihm, was die Polizisten mit uns gemacht hatten, dass man uns alles geklaut hatte. Er versprach vage, dem nachzugehen. Gegen fünf Uhr wurden wir zum Flughafen gebracht. Ohne medizinische Versorgung wurden wir mehrere Stunden in einer Arrestzelle auf dem Flughafen festgehalten. Schließ­lich setzte man uns in ein Flugzeug nach Barcelona.«

Inzwischen haben Menschenrechtsorganisationen über 150 Fälle von Miss­handlungen und Missbrauch der Gefangenen dokumentiert. Präsident Fox erklärt, der soziale Frieden sei nur noch zu gewährleisten, wenn die EZLN vollständig entwaffnet werde.

Am Sonntag, dem 14. Mai, ein Uhr morgens, besteige ich in Toluca eine Maschine der Air Madrid, mit der ich nach Spanien fliege.