Zwischenstation Sehnsucht

In einem alten Bahnhof in der spanischen Exklave Ceuta warten Flüchtlinge auf ihre Chance, nach Europa zu gelangen. von hanna keller (text) und moritz siebert (fotos)

Mohammed strahlt, wenn er von Europa spricht. Er kramt eine zerfledderte Postkarte aus seiner Hosentasche, auf der ein Surfer zu sehen ist, der eine große Welle reitet. »Das möchte ich machen, wenn ich in Europa bin. Eine gute Arbeit finden und in der Freizeit sur­fen gehen.« Nur 50 Kilometer Luftlinie ent­fernt von Ceuta liegt der von vielen Surfern besuchte Ort Tarifa auf dem spanischen Festland. Ein für Mohammed und seine Kumpels nicht leicht zu erreichender Traum. Einige ­Algerier leben schon zwei Jahre ohne Papiere in der spanischen Exklave im Norden Marokkos. Hier halten sie Tag für Tag Ausschau nach einer Gelegenheit, unentdeckt mit einem LKW, Reisebus oder Campingwagen auf einer der stündlichen Fähren ins spanische Algeciras zu gelangen. Geld, um so eine Reise zu finanzieren, haben sie nicht.

Es ist nicht schwer, mit den jungen Männern, die in kleinen Gruppen am Fährhafen vor den stark gesicherten Terminals und Parkplätzen he­rumlungern, ins Gespräch zu kommen. Der 17jährige Mohammed und sein Freund Khaled sind seit sechs Monaten in Ceuta. Sie kommen aus der algerischen Stadt Oran, die eine Tagesreise entfernt ist. In einem Dorf an der Grenze zu Ceuta haben sie sich marokkanische Pässe gekauft, mit denen sie in die spanische Exklave einreisen wollten. Die Bewohner umliegender Orte dürfen die Grenze passieren. Die beiden aber hatten Pech und man nahm ihnen die Pässe wieder ab. »Am Ende sind wir geschwommen, zwei Stunden lang, nachts im Dunklen. Gegen die Kälte haben wir unsere Körper mit Tierfett eingerieben«, erzählt Mohammed und schüttelt sich bei dem Gedanken an die Strapazen.

Ein halbes Jahr nachdem Ceuta wegen der brutalen Abwehr eines Ansturms hunderter Migranten auf die Exklave international Schlag­zeilen gemacht hat, hat sich die Situation nach Aussage der meisten Bewohner von Ceuta beruhigt. Die Überwindung des Grenzzauns, der Ceuta von Marokko trennt, ist auf Betreiben Spaniens hin deutlich erschwert wor­den. So wurden der Zaun um einen weiteren Me­ter erhöht und auf marokkanischer Seite die Wälder gerodet, in denen zuvor viele tausend Migranten campiert hatten. Darüber hinaus hat das marokkanische Militär seine Präsenz deutlich verstärkt. Infolge dieser Erschwernisse ist die Bedeutung Ceutas als wichtiger Ort für Migration stark zurückgegangen. Für viele Menschen aus dem westlichen Afrika führt die Route nach Eu­ropa inzwischen über die Kanaren.

Dennoch ist die Anwesenheit zahlreicher Migranten in Ceuta nicht zu übersehen. Auch wenn ein nicht unerheblicher Teil der Bewohner aus Ma­rokko stammt, was zumindest Menschen aus Algerien und Tunesien die Chance bietet, nicht sofort aufzufallen, ist schnell klar, wer hier dauerhaft lebt und wer sich im Transit befindet. Zu sehr fallen Menschen anderer Hautfarbe oder ärmlichen Ausse­hens in der spießigen Stadt auf, die in ihrem Zentrum merkwürdig leblos ist.

Neben den offiziell registrierten Flüchtlingen aus dem südlichen Afrika und Bangladesch sind es vor allem die jungen algerischen Männer, die in der Hafengegend herumlungern, an der Küste sitzen und angeln, Mülltonnen durchsuchen oder einfach ruhe­los durch die Stadt streifen. Auch ihr Wohnort ist in der überschaubaren Stadt kaum zu übersehen: ein von ihnen besetztes altes Bahnhofsgelände, zentral gelegen, unweit des Fährhafens.

Bereitwillig führen uns Mohammed und Khaled dorthin. Das Gelände liegt eingezwängt zwischen Wohnsilos und einem Hang unterhalb einer großen Straße. Hier leben über hundert »Clandestinos«, allesamt Männer aus Algerien im Alter zwischen 15 und 35 Jahren.

Weil sie keine Chance haben, einen Antrag auf Asyl zu stellen, ziehen die Algerier einen illegalisierten Aufenthalt der offiziellen Unterbringung im C.E.T.I. (Centro de Estancia Temporal de Immigrantes) vor. »Wir haben von niemandem etwas zu erwarten. Niemand will uns in Europa, und niemand wird uns dorthin bringen. Also nehmen wir unser Schicksal selbst in die Hand«, sagt Said, den wir am alten Bahnhof treffen, grinsend.

Er lebt noch nicht lange hier und muss deswegen wie die meisten Neuankömmlinge mit einem Schlafplatz in einem der hässlichsten Räume des Gebäudekomplexes vorlieb nehmen. In der großen Halle, die feucht und dunkel ist, haben sich etwa zwanzig Männer eingerichtet. Entlang der Wände haben sie sich aus Paletten und alten Matratzen Schlafkojen gebaut, die mit Planen und Tüchern verhängt sind, um wenigsten ein bisschen Privat­sphäre zu gewährleisten. Es gibt ein paar aus Kisten und Brettern behelfsmäßig gebaute Möbel und eine Kochecke mit einigen aus den Heiz­stäben alter Geschirrspüler gebastelten Kochplatten. Said hat eine Europakarte über seine Schlafstätte gehängt. Darauf hat er einige Orte umkringelt und daneben die Namen von Bekannten geschrieben, die dort leben.

Neben den provisorischen Räumen und unbewohnten, die als Klos genutzt werden, gibt es auch wohnlichere Zimmer. Hier leben diejenigen Männer, die schon eine lange Zeit da sind, oder solche, die offensichtlich einen stärkeren Stand in der Gemeinschaf t haben.

Hassan etwa scheint eine solche Stellung zu genießen, auch wenn er beteuert, dass das Leben miteinander von Solidarität gekennzeichnet sei und e s keinerlei Konflikte untereinander gebe. Er spielt sich als Wortführer auf und spult einen klagenden Bericht über die miserable Lebenssituation der Algerier im Bahnhof und in der Stadt ab. Gleichzeitig ist ihm auch ein gewisser Stolz auf das selbstorganisierte Leben anzumerken: »Wir sind eben so etwas wie eine Gemeinschaft von Outlaws, die sich alles selbst aufbauen muss.«

Obwohl er erst fünf Monate im Bahn­hof lebt, bewohnt der 30jährige gemeinsam mit zwei anderen ein fast komfortables Zimmer mit richtigen Betten, Sofas und mit bunten Seiten aus Illustrierten tapezierten Wänden. Eine Gruppe junger Männer hat sich hier zum Herumsitzen und Kiffen versammelt. »Das ist unsere Luxus-­Suite«, sagt Hassan, »und ganz jugend­frei«, fügt er schnell mit Blick auf die weiblichen Bademode- und Unterwäsche-Models an den Wänden hinzu. »Aber ein bisschen weibliche Gesellschaft brauchen wir schließlich.« Seine Frau und seine Tochter hat Hassan schon lange nicht mehr gesehen; sie leben in Frank­reich, von wo er »wegen Dumm­hei­ten«, wie er sagt, abgeschoben wurde, nachdem er eine Gefängnisstrafe abgesessen hatte. »›Double ­Peine‹ nennt man das, aber die können sicher sein, dass ich wiederkomme.«

Hassan führt uns weiter herum. Er zeigt uns, wo die Männer eine quer über das Gelände verlaufende Stromleitung anzapfen, wo sie Wäsche waschen, sogar eine selbst gebastelte Dusche gibt es. Wasser beziehen sie von der Einrichtung Cruz Blanca, deren Rückwand direkt an das Bahnhofs­gelän­de grenzt. An einem kleinen Hahn stehen mehrere Männer mit Kanistern und Plastikflaschen Schlange.

»Es ist sehr wichtig für die meisten hier, trotz der harten Lebensbedingungen ein gepflegtes Äußeres zu behal­­­­­­ten. Damit wir uns weiter wie normale Menschen fühlen«, erzählt Hassan. ­Außerdem würden sie so in der Stadt ­weniger schlechtes Gerede auf sich ziehen.

Das Cruz Blanca ist eine katholische Organisation, die dem Franziskanerorden angehört. In Ceuta ist sie die einzige Einrichtung, die eine minimale Infrastruktur für die »Clandestinos« gewährleistet. Sie bekommen hier täglich zwei Mahlzeiten: Morgens und mittags gibt es Sandwiches und Tee. Außerdem bietet das Cruz Blanca kostenlose medizinische Versorgung. »Die Leu­te sind okay. Viele von uns gehen täglich dort essen«, erzählt Hassan. Aber nicht alle. Einige zögen es vor, von Essen aus den Mülltonnen zu leben. »Wegen der Guardia Civil. Die kommen fast immer zu den Essenszeiten im Cruz Blanca vorbei. Meistens machen sie aber nichts.«

Auch das besetzte Bahnhofsgebäude wird von den spanischen Behörden toleriert, wie es scheint. Es gebe zwar hin und wieder nächtliche Besuche der Guardia Civil, und meistens würden dann auch Män­ner mitgenommen und abgeschoben, berichten uns die Bewohner. Im Großen und Ganzen können sie hier aber wohl relativ unbehelligt leben.

»Die Behörden sind doch froh, dass wir die ›Clandestinos‹ verpflegen und sie deshalb nicht klauen müssen. Und genauso passt es ihnen auch, dass sie so konzentriert an einem Ort leben und nicht auf den Parkbänken der Stadt übernachten«, sagt Isabela, die Koor­dinatorin des Cruz Blanca, die wir treffen, als wir einige der Männer mittags in den Speisesaal begleiten. »Solange die Leute nicht stören, werden sie nicht in Massen abgeschoben. Eher so kleckerweise. Das Prozedere ist sehr langwierig, die Identität der Leute muss geprüft und bei Minderjährigen auch der Wohnort ihrer Eltern festgestellt werden«, erklärt sie. »Bei Marokkanern ohne Aufenthaltserlaubnis verhält es sich anders. Die können direkt den marokkanischen Behörden hinter der Grenze übergeben werden.«

Neben den Clandestinos finden sich noch einige andere Migranten zum Essen in dem großen Saal ein. Dennoch bleibt die Hälfte der Tische leer. »Vor einem halben Jahr hatten wir hier noch täglich mehrere Hundert Leute zu versorgen, so dass wir die Mahlzeiten in Schichten organisieren mussten«, sagt Isabela. »Die Zahlen sind stark zurückgegangen seit dem letzten Herbst. Davor haben wir hier phasenweise auch an die hundert Leute untergebracht, die sonst auf der Straße gestanden hätten. Der ganze Flur lag voller Matratzen, auf denen die Leute geschlafen haben.«

Das Cruz Blanca nimmt Asylsuchen­de auf, für die sich bis zu ihrer offi­ziellen Anhörung und der Aufnahme ins C.E.T.I. sonst niemand zuständig fühlt. Momentan sind es zehn. Josef aus Liberia wird am nächsten Morgen seine Anhörung bei den Behörden haben. Seit zwei Wochen ist er in Ceuta, und er ist froh, dass sich am nächsten Tag etwas tun wird.

Vor fast zwei Jahren hat er Liberia verlassen, wo er für sich keine Perspektive sah. Weil ihm unterwegs immer wieder das Geld ausging und er sich mit miserablen Jobs und Betteln durchschlagen musste und weil ihn die marokkanischen Behörden mehrmals wieder über die Landesgrenze zurückschickten, dauerte die Reise derart lange. Zuletzt lebte er einige Zeit in Tanger, wo er schließlich jemanden fand, mit dessen Hilfe er nach Ceuta gelangte. »Ich kann eigent­lich nicht schwimmen, aber dieser Freund hat mich in ein Lifejacket und einen Autoreifen gesteckt und mich dann fast die ganze Strecke gezogen. Fast vier Stunden hat es gedauert.« Er ist noch immer sichtlich gerührt. »Es war schwer, in Marokko überhaupt Menschen zu finden, die dir helfen. Als Schwarzer ist es in Marokko nicht leicht. Ich habe sehr viel ertragen müssen«, erzählt er. »Aber was soll’s, jetzt bin ich ja hier«, fügt er hinzu, und die Euphorie darüber steht ihm deutlich ins Gesicht geschrie­ben. Voller Zuversicht, bald auf dem europäischen Festland zu sein, fragt er uns über die dortigen Lebensbedingungen aus; wo sich wie viel Geld verdienen lässt und wie hoch die Mieten sind. Dass es völlig unklar ist, ob ihn die spanischen Behörden überhaupt aufs Festland lassen, oder dass die Möglichkeit besteht, dass sie ihn zurückschicken werden, scheint ihm nicht bewusst zu sein.

Viele andere sind bereits resignierter. Gemeinsam mit Josef laufen wir nach dem Essen zu »Super Sol«, einem großen Supermarkt etwas stadtauswärts. Vor dem Eingang stehen einige Bewohner des C.E.T.I., die versuchen, hier ein paar Euro zu verdienen, indem sie den Kunden die Einkaufswagen zu ihren Autos schieben. Viele von ihnen leben bereits über ein Jahr in Ceuta, ohne Gewissheit, wann und ob sie jemals auf die »Peninsula«, also auf die andere Seite des Meeres, kommen werden.

Bei vielen hat sich Niedergeschlagenheit breit gemacht. Yahya aus Bangladesch erzählt, das Frustrierends­te an dem Festsitzen in Ceuta sei die Tatsache, dass er sich von seiner Familie Geld schicken lassen müs­se. »Meine Familie macht mir Vorwürfe. Die können nicht verstehen, dass ich jetzt in Europa bin und kein Geld habe.« Vier Jahre ist es bereits her, dass er sich von seiner Familie verabschiedet hat, um in Europa Geld zu verdienen. Wie alle Bewohner des C.E.T.I. bekommt er Unterkunft und Verpflegung, weiter nichts. Geld für die Telefongespräche nach Hause verdient er sich nun vor »Super Sol«. »Das ist immerhin eine Art von Beschäftigung, es gibt ja sonst nichts zu tun«, sagt er.

Auch einige Männer vom Bahnhof stehen etwas abseits. Auch für sie gibt es in Ceuta keine andere Arbeit. »Die Schwarzarbeit, die es gibt, wird von Marokkanern abgedeckt«, erzählt Said, den wir hier wiedertref­fen. »Aber eigentlich will ja auch niemand von uns hier arbeiten, sondern drüben in Spanien. Die meisten konzentrieren sich lieber darauf, eine Möglichkeit zur Überfahrt zu organisieren.«

Im Unterschied zu den Bewohnern des C.E.T.I. sind die Clandestinos nicht dazu verdonnert, auf eine Weisung der Behörden zu warten. Die Suche nach einem Weg auf das europäische Festland nehmen sie täglich selbst in die Hand. Die stärkere Selbstbestimmung in dieser Frage schlägt sich in einer spürbar optimistischeren Stimmung unter den Bewohnern des alten Bahnhofs nieder. »Wir lassen uns Europa doch nicht verbieten«, sagt Said.

Und immer wieder gelingt es einigen von ihnen, eine Überfahrt zu machen. Als wir am Abend Mohammed und einige andere am Küstenstreifen treffen, wo sie angeln, erzählen sie uns, dass es heute einer geschafft habe. »Es ist sicher­lich auch erst mal merkwürdig, nach so einer langen Zeit in der Gemeinschaft wieder allein zu sein. Dort anzukommen und wieder auf dich gestellt zu sein und kein Dach mehr über dem Kopf zu haben«, überlegt Mohammed. »Andererseits würde ich erst mal drei Luftsprünge machen, wenn ich es geschafft hätte.« Und seine Augen glänzen wieder bei dem Gedanken an Eu­ro­pa, das man bei klarer Sicht von hier aus so deutlich sehen kann, als sei es zum Greifen nahe.