Nie mehr Erste Liga

Immer mehr Menschen arbeiten in so genannten Billigjobs, oft für weniger als sechs Euro pro Stunde. von stefan frank

Das Evangelium ist voller Ungerechtigkeiten und bedürfte dringend einer Verbesserung. Eine der krassesten Geschich­ten, die Jesus erzählt, geht ungefähr so: Der Personalchef eines mittelständischen Weinbau-Unternehmens geht morgens zur Filiale der Arbeitsagentur, um Fremdarbeiter aufzusammeln und in seinen Weinberg zu schicken. Da der Wetterbericht für die kommende Woche Regen verheißt und die Ernte vorher noch eingebracht werden soll, geht er ein paar Stunden später nochmals dorthin, sieht Ostdeutsche müßig herumstehen und spricht zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg, und ich werde euch geben, was recht ist. Ein paar Stunden später kommt er erneut zum Job-Center, findet dort weitere Hartz-IV-Empfänger und herrscht sie an: Was steht ihr hier den ganzen Tag müßig und haltet Maulaffen feil? Sie antworten ihm: Es hat uns niemand gedungen. Da spricht er zu ihnen: So geht auch ihr in meinen Weinberg!

Bis hierhin ist die Firmenphilosophie unseres Alkoholkonzerns vorbildlich, geradezu Sabine-Christiansen-kompatibel. Der Weinberg wandert nicht etwa ins Ausland ab, sondern sichert den Standort und bringt Leute in Lohn und Brot. Dann aber wuchert der Wohlfahrtsstaat aus, Vollkasko- und Mitnahmementalität machen sich breit. Denn nicht nur die Arbeiter, die den ganzen Tag geschuftet haben, bekommen den versprochenen Euro, sondern auch die ALG-II-Empfänger, die erst am späten Nachmittag eingestellt wurden.

Politiker und Medienschaffende, die unlängst ihr Gerechtigkeitsempfinden entdeckt haben, würden empört fragen: Welchen Anreiz gibt es überhaupt noch zu arbeiten?

Die Welt, wie sie sich in den Augen der Kauders und Pofallas darstellt, sieht nämlich so aus: Überall suchen Firmen händeringend nach Arbeitskräften. Arbeitslose denken aber gar nicht daran, die ihnen reihenweise angebotenen Stellen anzunehmen, sondern missbrauchen stattdessen lieber Hartz IV. Warum sie das tun? Weil der »Anreiz« fehlt, niedrig bezahlte Jobs auszuüben. Zwar wird jeder Tellerwäscher unweigerlich irgendwann zum Millionär, aber so weit denkt der Arbeitslose in seiner Hängematte nicht. Deshalb muss man ihn zu seinem eigenen Besten zwingen, notfalls täglich zu einer 40 Kilometer entfernten Lidl-Filiale zu pendeln oder so lange Spargel zu stechen, bis der Arzt kommt.

Wie schön wäre es, wenn es all diese sympathischen, faulen Arbeitslosen gäbe, von denen man täglich hört und liest! Leider aber sind es Märchen, die Politiker und Journalisten einander erzählen (und die sie glauben, weil sie in der Zeitung stehen).

Tatsächlich drängeln sich auch beim allermiesesten Jobangebot die Aspiranten. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit zählt 3,9 Millionen Vollzeitarbeiter zur Gruppe der Niedriglohnbeschäftigten. Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung kommt gar auf 7,8 Millionen. Zu den Niedriglohnbeschäftigten zählt, wer weniger als den Durchschnittslohn von 1 630 Euro brutto erhält. Von diesen Menschen wiederum arbeitet derzeit die Hälfte für so genannte Armutslöhne von weniger als 50 Prozent des Durchschnittslohns. Das sind in Ostdeutschland 5,22 Euro pro Stunde, im Westen 7,19 Euro.

Dabei handelt es sich keineswegs um »Aus­hilfsjobs«. Als solche würde man Tätigkeiten bezeichnen, die ihrer Natur nach von kurzer Dauer sind (etwa in Hotels und Eisdielen während der Hochsaison) und für die keine besondere Qualifikation erforderlich ist. Beides trifft auf die meisten Billigjobs nicht zu. Viele Unternehmen, insbesondere im Einzelhandel und der Gebäudereinigung, sind inzwischen reine Niedriglohnfirmen. Stellen werden fast ausschließlich auf 400-Euro-Basis ausgeschrieben. Noch lieber würden sie lauter unbezahlte Praktikanten einstellen, aber die Bewerberflut ist in diesen Branchen noch nicht so groß wie in anderen.

Dabei können es sich die Unternehmen leisten, auch bei Stundenlöhnen von acht Euro oder weniger noch wählerisch zu sein und die vielfältigsten Anforderungen an die Bewerber zu richten. Werden die so Ausgebeuteten von Journalisten oder Gewerkschaftern interviewt, bestehen sie meist auf Anonymität. Sie wollen ihren Sechs-Euro-Job nicht verlieren, da sie wissen, dass die nächs­te Stufe der Ein-Euro-Job ist, und auch um diesen prügeln sich immer noch genug Leute.

Selbst eine Tätigkeit, die nach Tarif bezahlt wird, garantiert noch lange nicht, dass es sich dabei nicht um einen »Billigjob« handelt. Eine westdeutsche Floristin verdient gemäß Tarif im dritten Berufsjahr 1 275 Euro brutto, eine Haushaltshilfe 916. Ein Berliner Friseur kann als Berufsanfänger mit einem Stundenlohn von 3,38 Euro rechnen.

Gerne wird in Debatten über Arbeitslosigkeit so getan, als sei geringe Qualifikation die Ursache für »schwere Vermittelbarkeit«. Daran ist nur so viel wahr, dass sie der sichere Weg in die Armut ist – aber bei weitem nicht der einzige. Sowohl auf 400-Euro-Jobangebote als auch auf Ausschreibungen gering bezahlter Vollzeitbeschäftigungen bewerben sich immer mehr Menschen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung oder gar einem Hochschulstudium. Sei es, weil sie zum Überleben einen Zweit- oder Drittjob benötigen, oder weil sie in ihrem gelernten Beruf keine Stelle finden.

So führt das riesige Reservoir an Billigarbeitskräften dazu, dass im angeblichen Hochlohnland Deutschland Berufe wiederauferstehen, die ausgestorben waren, weil sie kein Mensch benötigt. An manchen Tankstellen etwa kann man sein Auto inzwischen wieder von einem Tankwart betanken lassen – für zwei Cent mehr pro Liter.

Während man in den USA die Existenz einer großen Anzahl von working poor als gesellschaftliches Problem erkannt hat, das auch von dem einen oder anderen Politiker thematisiert wird, betrachtet man diesen Zustand in Deutschland als ein Ideal. Das ist derselbe Geist, der den Autor der FAZ beseelte, der vor einiger Zeit erklärte, die deutsche Steinkohle sei nicht konkurrenzfähig, weil es in Deutschland im Gegensatz zu China keine Grubenunglücke gibt. Der Unterschied bei der Billigjobdiskussion aber ist, dass das Verlangte ja bereits existiert. Was also wird bezweckt? Ein Grund für diese Debatte ist, dass Wirtschaftsforscher jedes Jahr erklären müssen, warum es so viele Arbeitslose gibt. In dieser Frage ist der angeblich fehlende Niedriglohnsektor der letzte Schrei.

Außerdem dient die Propaganda, wie immer, zur Disziplinierung der Arbeiter. Wem jeden Tag in Erinnerung gerufen wird, dass es nach unten keine Grenze gibt und immer ein noch niedrigerer Lohn möglich ist, der wird nicht so schnell einen höheren verlangen. »Hauptsache Arbeit«.

Und schließlich sollen mit der Parole »Wachstum durch Niedriglohn« die Debatten um Mindest- und Kombilohn gestoppt werden. Diese nämlich hatte man wohl eher versehentlich angefangen. Inzwischen hat man bemerkt, dass beides sehr teuer käme. Entweder müsste der Staat Millionen bereits existierender Arbeitsverhältnisse bezuschussen, in denen Leute für einen Hungerlohn arbeiten. Oder die Unternehmer müssten für Arbeit, die sie jetzt nur fünf oder sechs Euro pro Stunde kostet, sieben Euro bezahlen. Das aber kann man ihnen nicht zumuten, schließlich ist doch bekannt, dass sie jeden Cent zweimal umdrehen müssen.