Schinden für die Ersatzbank

Niemand hat ernsthaft geglaubt, dass Hartz IV die Massenarbeitslosigkeit senken würde. Die Regelungen werden nur deshalb verschärft, weil die Arbeitslosen immer noch zu viel kosten. von felix baum

Die derzeitige Kampagne gegen die Arbeitslosen bewegt sich zwischen zynischem Realitätssinn und blankem Wahn (selbst wenn in der grundverkehrt eingerichteten Gesellschaft beides immer nahe beieinander liegt). Der Anlass der gegenwärtigen Kampagne ist die Enttäuschung über die Hartz-IV-Reform, die anderthalb Jahre nach ihrer Einführung die Zahl der Arbeitslosen überhaupt nicht und die Kosten ihrer Alimentierung nicht im erhofften Maße gesenkt hat. Der Ärger gilt vor allem diesem Aspekt. Denn an ein »Beschäftigungswunder« hat ohnehin niemand geglaubt.

Weil das aber nicht zugegeben werden darf, entlädt sich die Aggression gegen die Arbeitslosen selbst. »Arbeitsverweigerern drohen Sanktionen«, fasst die Bundesregierung die Verschärfungen zusammen, die in der vergangenen Woche beschlossen wurden. Sie beinhalten den vollständigen Entzug aller Leistungen nach dreimaliger Ablehnung von Arbeit, außerdem ausgedehnte Bespitzelung, Datenabgleich, Residenzpflicht und dergleichen mehr. Die Regierung offenbart das Ausmaß ihrer Realitätsverleugnung, wenn sie als »bessere Förderung« verspricht, »jedem neuen ALG II-Bezieher sofort ein Angebot zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt« zu unterbreiten, wo doch jeder weiß, dass eben diese Eingliederung für Millionen nicht mehr möglich ist und es bloß um Abschreckung geht.

In diesem Treibhaus von Projektionen und Ressentiments steigt das Bedürfnis, die vermeintlichen »Abzocker« und »Faulenzer« in einer Weise zu bestrafen, die dazu genügt, die sonst so angebeteten Fakten und Zahlen an den Rand zu drängen. Selbst offizielle Stellen wie die Bundesagentur für Arbeit messen dem »Leistungsmissbrauch« nur einen unbedeutenden Anteil an der scheinheilig beklagten »Kostenexplosion« bei, die sich schlicht daraus erklärt, dass es erheblich mehr Bedürftige gibt, als bei der Einführung von Hartz IV angenommen wurde. Umso schlimmer für die Arbeitslosen, wenn ihre Anzahl nicht mit den optimistischen Prognosen übereinstimmt!

Dafür kommt in der gegenwärtigen Missbrauchsdebatte heraus, wer den größten Sprung in der Schüssel hat. Sehr gut im Rennen liegt der stellvertretende Chefredakteur des Stern, Hans-Ulrich Jörges, der den Anwalt der ehrlichen Arbeit mimt. »Der Kommunismus siegt«, betitelte er seine Sozialstaatsanalyse, derzufolge »Arbeit verhöhnt und Nichtstun belohnt« werde, weil sich hinter dem »täuschend schäbig anmutenden« ALG II in Wahrheit ein »ausgewuchertes System von Zusatzleistungen« verberge. Der »unter Schweiß« Arbeitende hingegen sei wieder einmal der Dumme, während sich für ungezählte Drückeberger »eine wahre Honigroute zum Kommunismus« eröffne. Für diesen galoppierenden Schwachsinn erhielt der Mann prompt eine Einladung in Sabine Christiansens Talkshow. Das Thema lautete: »Arm durch Arbeit – reich durch Hartz IV?«

Auf diesem Gipfel der Raserei aber werden ihre tieferen Gründe offenbar, so dass versehentlich etwas Vernunft in die Sache kommt. Wieso spukt einem Ideologen des Bestehenden der längst totgesagte Kommunismus im Kopf herum, vom dem selbst die Linke kaum mehr sprechen mag?

Verblüffend sachkundig kennt dieser Ideologe sogar den Unterschied zwischen dem »eher anstrengenden Sozialismus«, in dem noch die individuelle Arbeitsleistung zählt, und dem Kommunismus als »Paradies auf Erden«, in dem »die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit« der Maxime gewichen ist: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.« In der neidbeißerischen Zwangsvorstellung, die Arbeitslosen führten heimlich ein Leben in Saus und Braus, bricht diese historisch gründlich verdrängte Möglichkeit hervor, den Stand der Produktivkraftentwicklung im Interesse aller zu nutzen, anstatt um lausige Jobs zu konkurrieren.

Das Bild vom luxuriösen Leben der Empfänger von ALG II, das denunziert wird, gerade weil sich alle danach sehnen, ist zwar eine Projektion, aber keine willkürliche. Denn die Überflüssigkeit der Arbeitslosen für die Produktion zeigt deren ungeheuren Stand und zeugt somit von der Möglichkeit der Freiheit. Diese Möglichkeit zu exorzieren, ist der heim­liche Zweck der Forderung nach Zwangsdiensten ohne jede Vergütung, nach »Null-Euro-Jobs« also, die Unternehmerverbände und andere Scharfmacher erneut in die Debatte werfen. Nicht weil sie gebraucht werden, sondern weil sie nicht mehr gebraucht werden, sollen die Arbeitlosen ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts verdienen.

Die Nähe dieses Wahns zu einem zynischen Realitätssinn liegt in der Notwendigkeit begründet, Millionen von Menschen bei Laune zu halten, die in der Tat arm durch Arbeit sind. Denn bekanntlich macht sich das – erst recht im globalen Ausmaß – erdrückende Überangebot an Arbeitskraft als halsbrecherische Konkurrenz unter den Lohnsklaven geltend. Deshalb arbeiten auch im so genannten rheinischen Kapitalismus je nach Schätzung drei bis sieben Millionen Menschen für Löhne, die kaum zum Überleben reichen. Diesen working poor hat die politische Klasse nur noch die zweifelhafte Genugtuung anzubieten, dass es anderen noch schlechter geht. »Wer arbeitet, muss mehr haben als jemand, der nicht arbeitet«, erläutert die Kanzlerin die Gründe für die jüngsten Maßnahmen gegen die Arbeitslosen.

Bourgeoisie und Staatspersonal sind realistisch genug, den eigenen Sonntagsreden von der »Würde« und dem »Lebenssinn«, den die Arbeit »dem Menschen« verleihe, keinen Glauben zu schenken. Sie wissen, dass die Lohnarbeit ein Zwangsverhältnis darstellt, aus dem selbst im arbeitsfreudigen Deutschland so mancher Prolet lieber heute als morgen aussteigen würde, weshalb der Zwang, freundlich »Anreiz« genannt, nicht durch eine erträgliche Grundsicherung unterhöhlt werden darf.

»Es werden einfach nicht die richtigen Anreize gesetzt, wenn manche mit Hartz IV besser leben können als ein Taxifahrer, eine Friseurin oder ein Bäcker von seinem Lohn«, sagt etwa Edmund Stoiber, während die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände auch nach den jüngsten Verschärfungen »Fehlanreize durch überhöhte Leistungen über den Bedarf zur Existenzsicherung hinaus« bemängelt und den Regelsatz von 345 Euro gesenkt wissen möchte. Tatsächlich besteht die Ironie der »Jahrhundertreform« darin, dass die Löhne schneller sinken, als das ALG II gesenkt werden kann, weshalb es nur eine Frage der Zeit ist, bis weitere »Nachbesserungen« an Hartz IV folgen.

Dass Gegenwehr dies abwenden wird, scheint nach Lage der Dinge so gut wie ausgeschlossen. Die gegenwärtige Tristesse vollendet sich erst in der Scheinopposition von Linkspartei und Gewerkschaften, die dem »Fordern« der Arbeitslosen stets nur mehr »Fördern« entgegenhält, einen »ehr­lichen zweiten Arbeitsmarkt« (DGB) einklagt, illusionäre Formeln von »Ausbildung und nachhaltiger Integration« (ebenfalls DGB) abspult und die Bundesregierung an ihre »Pflicht« erinnert, »neue Arbeitsplätze zu schaffen« (Oskar Lafontaine). Nur wo die Massenarbeitslosigkeit als Hinweis auf das heute Mögliche verstanden wird, könnte sich eine Bewegung bilden, die zu mehr als laschen Protesterklärungen in der Lage ist.