Unschuldig begnadigt

Nach der Begnadigung eines ehemaligen Mitglieds von Lotta Continua wird in Italien über eine Amnestie für Gefangene aus den Bewegungen der siebziger Jahre diskutiert. von egon günther

Die erste Amtshandlung des neuen italienischen Justizministers Clemente Mastella sorgte für eine Sensation. Die Begnadigung von Ovidio Bompressi war aber auch ein überfälli­ger Akt. Der ehemalige Justizminister Roberto Castelli hat ihn jahrelang durch ein Veto verhindert, obwohl der damalige Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi im Prinzip dafür war und auch der ehemalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi keine Einwände geltend machte. Der heute 59­jäh­rige, schwer kranke Bompressi war einst ein Mitglied von Lotta Continua, einer Gruppe der außerpar­lamentarischen Linken, die von 1968 bis 1978 existierte. Im Jahr 2000 wurde er nach einer Reihe von Prozessen, die sich in verschiedenen Gerichts­instanzen insgesamt zehn Jahre hinschleppten, wegen der Ermordung des Kommissars der poli­tischen Polizei, Luigi Calabresi, im Mai 1972 zu fast zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt.

Seit einiger Zeit steht er in seiner Heimatstadt Massa unter Hausarrest, da er wegen seiner Krankheit haftunfähig ist. Bompressis Verurteilung liegen die Anschuldigungen eines Kronzeugen zugrunde, auf deren moralische wie juristische Fragwürdigkeit der Historiker Carlo Ginzburg in seinem Buch »Der Richter und der Historiker« erschöpfend ein­gegangen ist. Zwei weitere Mitangeklagte Bompressis, die schließlich als Auftraggeber des Mordes an Calabresi zu 22 Jahren verurteilt wurden, sind Adriano Sofri und Giorgio Pietroste­fani.

Sofri ist der derzeit wohl bekannteste italienische Häftling beziehungsweise Freigänger. Seit er seine Strafe zu zwei Dritteln abgesessen hat, arbeitet er an fünf Werktagen in der Universität von Pisa. Seine Begnadigung soll dem Justizminister Mastella zufolge noch in diesem Jahr ausgesprochen werden. Sofri selbst, der wie seine Mitangeklagten jede Schuld an der Ermordung Calabresis zurückweist, hat allerdings bislang noch nie ein Gnadengesuch eingereicht. Giorgio Pietrostefani, der sich dem Haftantritt entzogen hat, lebt heute im französischen Exil.

Am 2. Juni, der in Italien ein Nationalfeiertag ist, sorgte der Justizminister erneut für Aufsehen, als er während eines Besuches im römischen Gefängnis Regina Coeli über eine Amnestie beziehungsweise einen generellen Strafnachlass sprach, der den untragbaren Zuständen in den überfüllten italienischen Strafanstalten zumindest zeitweise Abhilfe schaffen soll. In italienischen Gefängnissen sind momentan etwa 62 000 Menschen zusammengepfercht, mitunter sogar zu sechst in einer Zelle und meist unter unzureichenden hygienischen Bedingungen. Die Mehrheit der Häftlinge besteht aus Immigranten, deren einziges Vergehen es war, gegen die Normen des Einwanderungsgesetzes verstoßen zu haben, und aus Drogen­abhängigen, die oft chronisch krank sind und zu deren Behandlung Ärzte fehlen. Im vergangenen Jahr sahen 58 Häftlinge kei­nen anderen Ausweg als den Selbstmord. Selbst die italienische Gefängnisverwal­tung konnte in ihrer jüngsten Statistik zur Überfüllung der Strafanstalten nur feststellen, dass die Mehrheit der ihr unterstellten Häftlinge aus einer »Welt der Schwachen und Ausgegrenzten« kommt.

Jemand, der sich in den siebziger Jahren zunächst auf illegalem Weg für die Abschaffung dieser klassengesellschaft­lichen Misere engagiert hat, ist Sergio D’Elia. Vor dreißig Jahren gehörte er zur toskanischen Kolonne von Prima Linea, einer mit den Brigate Rosse konkurrierenden Organisation. Er saß dafür zwölf Jahre im Knast, trat, nachdem er dem bewaffneten Kampf abgeschworen hatte, in die Radikale Partei ein und gründete im Jahr 1993 mit »Nessuno tocchi Caino« (Keiner rühre Kain an) eine Organisation, die sich für die Abschaf­fung der Todesstrafe einsetzt. Seit dem Wahlsieg der Mitte-Links-Koalition sitzt D’Elia für Rosa nel Pugno, eine Wahlliste der Radikalen Partei, der Laizisten und der Demokratischen Sozia­listen, als Abgeordneter im italienischen Parlament und wurde sogar zum Sekretär im Präsidentschaftsbüro der Abgeord­n­e­ten­kammer ernannt.

Wie die Begnadigung von Bompressi und der Amnestieplan des Justizministers war auch dies ein Vorgang, der im Lande keineswegs ungeteilte Zustimmung fand. Die rechtsgerichtete Gewerkschaft der Polizei protestierte ebenso wie die Vereinigung der Familienangehörigen der Opfer des faschistischen Bomben­atten­tats auf dem Bahnhof von Bologna 1980 und einzelne Angehörige von Staats­die­nern und Industriellen, die in den »bleier­nen Jahren« von Rot­brigadisten erschossen wurden.

Darunter ist auch der Sohn eines 1978 getöteten Polizeiwachtmeisters, der als Mitglied von Rifondazione Co­mu­nista seinem ehemaligen Parteisekretär, dem heutigen Präsidenten der Abgeordnetenkammer, Fausto Berti­notti, in einem offenen Brief wegen der Ernennung D’Elias mit dem Austritt aus der Partei drohte. Zudem nutzte ein ehemaliger »Reuiger« von Prima Linea, der gleich nach seiner Verhaftung intensiv mit den Behörden zusammengearbeitet und dadurch die Organisation aufgerieben hat, die Gelegenheit, D’Elia in der rechtskonservativen Zeitung Il ­Giornale zu denunzieren. Vor dreißig Jahren sei dieser an einem missglückten Banküberfall beteiligt gewesen, der den Tod eines Wachmannes zur Folge hatte.

Wie immer, wenn in Italien über die Vergangenheit, über Schuld und Sühne debattiert wird, meldete sich auch der ehemalige Innenminister und Staatspräsident Francesco Cossi­ga zu Wort. In einem Brief sprach er sich für die Begnadigung von Sofri und seinen Mitangeklagten aus, die er im Übrigen für unschuldig hält, selbst wenn sie sich, wie sehr viele an­dere auch, zumindest eine gewisse Mitschuld an der Ermordung Calabresis aufgeladen hätten. So denken inzwischen auch viele Linke; denn Lotta Continua hat Calabresi damals als »Folterkommissar« bezeichnet und für den Tod von Giuseppe Pinelli verantwortlich gemacht. Der Anarchist Pinelli stürzte 1969 aus dem vierten Stock des Mailänder Polizeipräsidiums zu Tode. Man hatte ihn dort drei Tage lang rechts­widrig festgehalten und mit dem Bomben­anschlag auf der Piazza Fontana in Verbindung gebracht, der in Wirklichkeit am 12. Dezember 1969 von italienischen Faschisten ausgeführt wor­den war. Calabresi leitete damals das Verhör.

Cossiga, der zu dieser Zeit Innenminister war, führt nun etliche prominente Namen aus der Schar derjenigen auf, die sich der Position von Lotta Continua in der Kampagne gegen den »Folterkommissar« anschlossen und sogar irgendwie den bewaffneten Kampf rechtfertigten. Man findet darunter die gesamte Nomenklatura der italienischen Intelligenz: Künstler, Regisseure, Kritiker, Schauspieler und Schriftsteller. Cossiga schließt daraus, dass es fast begreiflich sei, wenn jemand mit derart hochkarätiger Unterstützung zur Selbstjustiz gegriffen habe. Er fordert deshalb eine umfassende Amnestie, die die militanten Angriffe der Linken und Rechten aus den siebziger Jahren einbeziehen soll. Er denkt nach wie vor in der Logik des Bürgerkrieges.