Schwarz-Rot-Was?

Was ist von den allgegenwärtigen deutschen Fahnen zu halten? Eine Umfrage von nicole tomasek und deniz yücel

Wir sind WM

Die Mehrheitsgesellschaft sagt: »Wir sind Papst.« Also sind wir wohl auch Fifa-Weltmeisterschaft. Aber so wenig, wie alle Deutschen katholisch sind, so viel ist die Euphorie eher eine Begeisterung für diese WM und nicht unbedingt für Deutschland. In jeder Kneipe werden die Spiele anderer Nationalteams ebenso verfolgt. Erst wenn Deutsch­land Weltmeister oder Vizeweltmeister würde, müsste man sehen, ob ein Gefühl von »Deutschland, Deutschland über alles« entsteht. Ich halte das jedoch nicht für wahrscheinlich. Der Papst wird bleiben, die WM geht vorüber, und der Patriotismus hat hierzulande nur alle paar Jahre Konjunktur. Ich rate zur Gelassenheit und kenne niemanden aus meiner Gemeinde, der sich fürchtet, aber einige, die die WM spannend finden.

andreas nachama, rabbiner und ­direktor der stiftung topographie des terrors

Gefühltes Wir

Die Welt ist zu Gast bei Freunden, und zwar nicht bei lächelnden, aber stillen Freunden, sondern bei welchen, die selbst Spaß haben und die Lust auf ihr Land haben. Hier zeigt sich ein natürlicher oder gesunder Pa­trio­tismus, es zeigt sich, dass wir in den letzten Jahren einen selbstbewussteren Umgang mit der Nation gefunden haben. Sicher hätte eine WM im eigenen Land auch ohne unsere Kampagne »Du bist Deutschland« eine solche Wirkung gehabt. Doch die Kampagne hat dazu beigetragen, dass diese Stimmung diese Dimension erreicht hat und selbst im Feuilleton akzeptiert wird. Dieses Ausmaß der zur Schau gestellten nationalen Zugehörigkeit wird nach der WM zurückgehen. Wir wollen auch gar nicht, dass in jedem Garten immer eine Fahne hängt, ich jedenfalls will das nicht. Auch in Zukunft werden wir zurückhaltender auftreten als andere Weltmächte, die arroganter rüberkommen. Natürlich könnten Rechtsradikale versuchen, die patriotischen Gefühle zu instru­mentalisieren. Dem müssen wir alle entgegentreten. Ich hoffe, dass wir durch dieses gefühlte Wir, das sich derzeit überall zeigt, auch couragiert und selbst­bewusst genug sein werden, um zu deutlich sagen: Das ist nicht das Deutschland, das wir wollen.

lars cords, werbeagentur ­fischerappelt, leiter der kampagne »du bist deutschland«

Furchtbares Loblied

Wir haben nichts dagegen, wenn sich Menschen über Erfolge ihrer Mannschaften freuen. Etwas anderes ist es, wenn versucht wird, die WM für eine Patriotismusdebatte zu benutzen und dabei die Geschichte des Patriotismus in diesem Land zu verschweigen. Deshalb haben wir die Broschüre »Argumente gegen das Deutschlandlied – Geschichte und Gegenwart eines furchtbaren Lob­liedes auf die deutsche Nation« herausgebracht. Wir wollen das Feld nicht denen überlassen, die hoffen, dass mit dieser WM der Schluss­strich unter die deutsche Vergangenheit gezogen wird.

jochen nagel, ­gew hessen

Grenzen geöffnet

Viele von denen, die deutsche Fahnen schwenken, haben einen Migrationshintergrund. Das beweist, dass es mehr gibt als immer nur Entweder / Oder, vielmehr identifizieren sich die Angehörigen der Minderheiten mit ihrer Herkunftskultur, aber auch mit dem Land, in dem sie leben. Man ist nicht nur Türke oder Araber, sondern zugleich Deutscher, Berliner, Kreuzberger etc. Ich sehe auch Unterschiede zu 1990. Damals war es nicht selbstverständlich, dass Migranten mitfeierten. Auf beiden Seiten hat man sich damals abgegrenzt. Das ist heute anders.

eren ünsal, sprecherin des türkischen bundes berlin-brandenburg

Überfressen

Ich bin schon altersbedingt skeptisch, wenn es darum geht, nationale Symbole zu zeigen. In meiner Verwandtschaft war es üblich, dass bei Familienfeiern einige Stühle leer blieben – für all jene, die unter deutschen Fahnen in allen Farben gestorben sind. Darum habe ich auch auf unschuldige deutsche Fahnen keine Lust. Aber meine Kinder, die 14 und neun Jahre alt sind, wollen das ausprobieren, sie haben sich die drei Farben auf die Backe gemalt und sind damit zum Stadion gelaufen. Ich fände es klemmärschig, es ihnen zu verbieten. Überhaupt kommt mir das Land etwas infantil vor, wie Kinder aus strengem Hause, die jahrelang nicht zu McDonald’s durften und jetzt, wo sie es dürfen, sich sofort überfressen.

friedrich küppersbusch, journalist, fernseh­produzent

Du darfst!

Dass viele Deutsch-Türken die deutsche Fahne tragen, hat mich nicht überrascht, aber gefreut. Immer wieder erzählen mir junge Deutsch-Türken, dass sie Deutschland lieben, und fragen mich, ob sie das dürften und wie ich das erlebte. Ich sage denen: Natürlich darfst du sagen, dass du Deutschland liebst, wenn du dieses Gefühl empfindest. Das ist doch dein Zuhause! Wer sein Zuhause nicht liebt, wird ihm immer fremd bleiben.

necla kelek, soziologin

Du darfst nicht!

Ob überall Fahnen hängen oder nicht, macht für mich keinen Unterschied, bislang jedenfalls. Mir tut weh, dass der Fußball als Mittel dazu dient, um der Wirklichkeit zu entfliehen. Dieser Eskapismus zeigt sich auch jetzt: Deutschland präsentiert sich als weltoffenes und gastfreundliches Land. Dabei ist für Flüchtlinge ganz Deutschland eine No-Go-Area. Es gibt eine Residenzpflicht, die ihnen sagt: Du darfst nirgends hingehen! Ein anderes Beispiel dafür, wie der Fußball politische Probleme verdeckt: Wir kämpfen gegen Abschiebung nach Togo. Jetzt ist Togo hier vertreten, aber niemand redet darüber, wie dort die Menschenrechte verletzt werden.

osaren igbinoba, the Voice, flüchtlings­organisation, jena

Nicht im Weltkrieg

Bei uns in England hat fast jedes Auto eine englische Flagge, warum sollten die Deutschen nicht das Gleiche machen? Daran ist nichts Finsteres. Es geht um Fußball, nicht um Weltkrieg.

nick parker, redakteur the sun

Nur ein Hype

Auch wenn die WM im Grunde eine coole Sache ist, geht mir das ganze Gedöns auf den Senkel. Auch wenn die Kids jetzt sagen, man hätte jetzt Grund, stolz auf sein Land zu sein, glaube ich nicht, dass das mehr ist als ein Hype. Wenn du sie in einem halbem Jahr drauf ansprichst, dass sie ihr Gesicht schwarz-rot-gold angemalt haben, werden sie das wohl auch nicht mehr so lustig finden, die Hartz-IV-Empfänger.

marco haas (t.raumschmiere), musiker

Alles wie damals

Ich halte Patriotismus für dasselbe wie Nationalismus und wiederum für eine Voraussetzung des Antisemitismus. Die Frage, ob der Nationalismus die WM überdauern werde, halte ich für falsch. Nationalismus gab es vorher, nur drückt er sich deutlicher aus. 1990 waren zwar weniger Leute mit Fahnen unterwegs, die deutschnationale Stim­mung aber war genauso wie heute.

mike hartwig, lobbi, verein

für opfer rechter gewalt, rostock

Natürlich unnatürlich

Bei so einem Anlass ist ein gewisser Grad an Nationalbewusstsein normal. Natürlich hat Deutschland ein kompliziertes Verhältnis dazu. Dennoch erscheint mir die Rede vom »natürlichen Patriotismus« merkwürdig. Wenn man sagen muss, das etwas natürlich sei, ist nichts daran natürlich.

deidre berger, american jewish committee

Fahnenfreies Fahrrad

Man kann ja kaum noch irgendwohin gucken, ohne einen deutschen Wimpel zu sehen. Darüber bin ich zwar nicht begeistert, aber ich sehe auch, dass die Leute aus sehr unterschiedlichen Gründen Fahnen schwenken. Oft ist das nur Ausdruck von Fun und Begeisterung. Man sollte auch nicht vergessen, dass Kaufhäuser und Tank­stellen diese Dinger umsonst verteilen. Ich habe schon in Interviews gesagt, dass ich keine deutsche Fahne ans Fahrrad hängen werde und dass es einiges gibt, auf das man nicht stolz sein kann. Dafür hat mich die Bild-Zeitung als »Miesmacher« qualifiziert, ich habe auch böse Briefe erhalten, in denen ich als »Vaterlandsverräter« beschimpft und dazu aufgefordert werde, in die Türkei auszuwandern. Ich glaube aber nicht, dass diese Leute für die Mehrheit sprechen.

hans-christian ströbele, die grünen

Körperliches Unbehagen

Ich hatte mich eigentlich auf die WM gefreut, aber schon beim Eröffnungsspiel kam mir angesichts des »Deutschland«-Gegröles die Galle hoch. Mehr noch als eine intellektuelle ist es bei mir eine körperliche Reaktion: Ich kann so viele Menschen mit Deutschland-Fahnen schlicht nicht ertragen. Für einen Antinationalisten ist das abstoßend und verachtenswert und ablehnenswert. Allerdings kann man den emotionalen Alarm­zustand, in den einen das versetzt, gar nicht über Wochen durchhalten, man bräuchte schon übermenschliche Kräfte, um das zu bekämpfen. Deswegen kapituliert man ein bisschen. Ansonsten schaue ich mir die Spiele gerne an.

arne zank, schlagzeuger von tocotronic

Keine Sorge

Es wäre fanatisch und paranoid zu sagen: Sie haben die Fahnen in die Hände genommen, jetzt kommt der Faschismus. Ich sehe keinen Anlass zur Sorge.

aydin ulun, berlin-korrespondent der hürriyet

Nearly perfectly fine

Ich empfinde die Begeisterung auf den Straßen und in den Stadien – ich habe schon sechs Spiele besucht – als normal und überhaupt nicht anders als die Begeisterung anderer Leute. Perfectly fine! Etwas anderes sind die Kommentare in den Medien. Die Fernsehreporter von ARD und ZDF sind sehr nationalistisch, auch viele Kommentare in den Printmedien. So war es zum Beispiel degoutant, wie die Zeit noch vor dem Eröffnungsspiel eine Titelgeschichte »Deutschland gewinnt« brachte und darin die deutsche Organisation lobte. Natürlich musste in diesem – übrigens völlig unzutreffenden – Vergleich die WM in den USA im Jahr 1994 als negatives Gegenbeispiel herhalten. Deutschland kann eben nur als Gewinner dargestellt werden, in dem man die USA herabsetzt.

andrei s. markovits, politologe, university of michigan

Anderes Programm

Ich glaube nicht, dass die Regierung nur dank der WM sich traut, bestimmte Dinge zu beschließen, sie besitzt auch so eine Zweidrittelmehrheit. Dass die Redaktion der Bild-Zeitung von der nationalen Besoffenheit ergriffen ist, heißt keineswegs, dass alle Menschen in diesem Land nichts anderes mehr wahrnehmen als Fußball. Wir zumindest sitzen nicht permanent vor dem Fernseher.

hilmar höhn, dgb

Miesmacher raus!

Wir begrüßen den Patriotismus auf das außerordentlichste. Dass er bis zur dieser Weltmeisterschaft warten musste, um sich ungehindert zu artikulieren, geht auf Geschehnisse in den dreißiger und vierziger Jahren zurück, die wir aber mit dem Spiel gegen Polen überwunden haben. Die Miesmacher, denen das nicht gefällt, sollen das Land sofort verlassen.

martin sonneborn, titanic