Tanzen verboten, Schlagen erlaubt

Der Alltag in kirchlichen Kinderheimen war bis in die sechziger Jahre hinein bestimmt von Gewalt und Willkür. Ehemalige Heimkinder haben dem Journalisten Peter Wensierski ihre Geschichte erzählt. von guido sprügel

Es scheint ein wesentliches Kennzeichen von Gesellschaften in der Krise zu sein, sich an bessere Zeiten zu erinnern. Zu beobachten ist dies auch in Deutschland. Seit das Land von einer Art kollektiver Sinnkrise heimgesucht wird, mehren sich die Fernsehbeiträge über die goldene Zeit der Gründerjahre, das Wirtschaftswunder und die »Stunde Null« im Jahre 1945. Die Konflikte der fünfziger Jahre tauchen dagegen nur am Rande auf: die Wiederaufrüstung, das Verbot der KPD. Und nur vorsichtig werden Kontinuitäten der NS-Vergangenheit angesprochen.

Darüberhinaus gibt es auch Themen, die fast vollkommen in Vergessenheit geraten sind. So ist bis heute sehr wenig über die Situation in kirchlichen Erziehungsheimen bekannt, in denen bis in die siebziger Jahre hinein über eine halbe Millionen Kinder und Jugendliche lebten. Insgesamt gab es an die 3 000 Heime in Deutschland, in denen sich vornehmlich die Kirche um die Fürsorgezöglinge kümmerte, und das nur selten nach christ­lichen Maßstäben der Nächstenliebe. In vielen ­Heimen bestimmten Willkür, Strafen und Demü­tigungen den Alltag der Heimkinder.

»Es war so, als hätte sich ganz Deutschland ab­gesprochen. Die einen feierten ihr Wirtschafts­wunder, die anderen verdrängten die Nazizeit. Wir störten da nur, denn in diese Gesellschaft passten wir nicht«, sagt Gisela Nurthen, die jahrelang in einem Heim der Barmherzigen Schwestern verbrachte. Nachbarn hatten die Tochter einer alleinerziehenden Mutter wegen deren »Lebenswandel« beim Jugendamt denunziert. Über dreißig Jahre lang verdrängte Gisela Nurthen ihre eigene Heimvergangenheit, um sich nicht mehr an die furchtbare Zeit erinnern zu müssen. Ihre Lebensgeschich­te offenbarte sie schließlich dem Dokumentarfilmer und Spiegel-Autor Peter Wensierski, der neben der filmischen Dokumentation auch ein Buch mit dem Titel »Schläge im Angesicht des Herrn« über die verdrängte Geschichte der Heimkinder herausbrachte.

Ein Film mit dem Titel »Die unbarmherzigen Schwestern«, der von den desolaten Zuständen in irischen Heimen in den späten sechziger Jahren handelte, brach das Tabu und machte eine Aufarbeitung möglich. Kurz nach seiner Ausstrahlung in den neunziger Jahren meldeten sich beim Spiegel unzählige ehemalige Heiminsassen aus Deutschland, die nun auf ihr Schicksal aufmerksam machten und das Schweigen brechen wollten. Im Jahr 2003 erschien im Spiegel ein längerer Artikel, der sich mit der Heimerziehung in Deutschland befasste. Wensierski hat weiter recherchiert, mit vielen Ehemaligen gesprochen und versucht, Akten zu sichten.

Wer in den fünfziger und sechziger Jahren in ein Heim eingewiesen wurde, musste nicht zwangläufig »kriminell« oder ein Waisenkind sein. Es waren oft nichtige Gründe, wie im Fall von Gisela Nurthen, die zur Heimeinweisung führen konnte. Ein Kartell aus Jugendämtern, Lehrern, Gerichten, Nachbarn und Eltern war verantwortlich für die Einschätz­ung, ob jemand gut oder böse, ungezogen oder brav war oder ob ein Mädchen als »sexuell verwahrlost« galt. Uneheliche Kinder wurden häufig wegen dieses »Makels« in ein Heim eingewiesen, und zwar mit dem Argument, es drohe die soziale Verwahrlosung. In vielen Fällen wurde es den Jugendlichen zum Verhängnis, dass sie zu später Stunde in Tanzlokalen gesehen wurden oder aber in die nächste Großstadt getrampt waren.

Die Heimunterbringung war bereits seit dem 19. Jahrhundert fest in kirchlicher Hand. »Rettungsanstalten« und »Erziehungsvereine« gab es im ganzen deutschen Reich. Erklärtes Ziel der christlichen Heimerziehung war seit ihrer Entstehung die moralische und religiöse Charakterbildung durch Disziplin, Zucht, Ordnung, Arbeit und Sauberkeit. Bis Ende der sechziger Jahre hatte sich an diesen Maximen nichts geändert.

Und auch die Ideologie blieb die alte. Wie in vielen anderen Institutionen der bundesdeutschen Gesellschaft auch, überdauerte in den Heimen ein überaus auto­ritäres Menschenbild. So führte der Jesuitenpater Karl Erlinghagen auf einer Konfe­renz über katholische Heimerziehung 1959 aus: »Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass die Menschheit als Ganze irgend­wie an den Gebrechen krankt, die sie, die Erzieher, in den konkreten Situationen in ihren Heimen vor sich finden. Die Menschen, die sie vor sich haben, seien sie nun Psychopathen, seien sie kriminell (…), die­se Menschen leiden unter dem gleichen Fluch der Erbsünde, unter dem die ganze Menschheit leidet.«

Diese Auffassung spiegelte sich im Alltag der Heimkinder aufs Grausamste wider. Die Nonnen, Mönche und Erzieher in den Heimen ahndeten »böses Verhalten« mit drakonischen Strafen, in fast allen Heimen gab es so genannte Besinnungsräume. Gerald Hartford hat viele Tage in einem solchen »Besinnungsraum« im Heim in Hövelhof zugebracht. »Bunker«, nennt er diesen Raum. Der Journalist Wensierski unterstützte Gerald Hartford dabei, seinem ehemaligen Peiniger, dem Pater Vincens, nach Jahrzehnten wieder gegenüberzutreten. Durch Zufall hatte der ehemalige Heiminsasse in einem Fernsehbericht den »Pater der Herzen«, den Bundesverdienstkreuzträger Pater Vincens, wiedererkannt. Gemeinsam mit Wensierski besuchte er ihn und bat ihn um Erklärungen. Ja, räumt dieser schließlich ein, man habe schon mal Störenfriede in einen »Besinnungsraum« gesteckt, aber »nur kurz«.

Hartford hat andere Erinnerungen. Wochenlang habe er in der Zelle mit Holzpritsche ohne Matratze und nur einem Eimer in der Ecke für die Notdurft zugebracht. Pater Vincens beendet das Gespräch daraufhin schnell. »Das hatte ich nicht zu verantworten«, sagte er kurz und knapp. Das Beispiel ist exemplarisch für die Erfahrungen, die Wensierski bei seinen Recher­chen machte. Bis auf wenige Ausnahmen stellte sich niemand der damals Verantwortlichen der Diskussion mit den ehemaligen Heimkindern. Fast nie erhielten die Betroffenen Akteneinsicht. In den Jubiläumsschriften vieler Heime wird nicht nur die Zeit von 1933 bis 1945 ausgelassen, auch die fünfziger und sechziger Jahre blieben unerwähnt.

Was die ehemaligen Insassen neben den erlittenen Demütigungen, Schlägen und dem Eingesperrt­sein heute noch beschäftigt, ist die unbezahlte oder unterbezahlte Zwangsarbeit, die sie in heim­eige­nen Wäschereien oder beim Torfstechen in der Nähe ehemaliger Jugendkonzentrationslager leisten mussten. Bei der Rentenberechnung fehlen ihnen diese Jahre.

Die Zustände änderten sich erst Ende der sech­ziger Jahre mit dem Einsetzen der APO-Heimkampagne. Auf Demonstrationen wurde auf die Situation in den Heimen aufmerksam gemacht, Insassen wurde zur Flucht verholfen. Die APO organisierte Unterkünfte in Frankfurt und befreite Jugendliche aus dem Heim Staffelberg in der Kleinstadt Bieden­kopf. Ulrike Meinhof und Andreas Baader waren maßgeblich an der Heimkampagne beteiligt. In dem Film »Bambule« schilderte Meinhof erstmals öffentlich die Zustände in den christlichen Heimen.

Die Aufarbeitung der Geschichte der Heime hat in den vergangenen Jahren begonnen. Die Lebensberichte der Heimkinder sollten eine Warnung sein, den neuerdings lauter werdenden Rufen nach dem »Wegschließen« von auffälligen Jugendlichen nicht nachzugeben.

Peter Wensierski: Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepu­blik, DVA 2006, 19,90 Euro