Verlorenes Paradies

Happy Family VII

Meine erste Begegnung mit der mir unbekannten Welt der Wohngemeinschaften ähnelte den Beschreibungen von Südseeinseln, die Reisende wie Bougainville und Forster am Ende des 18. Jahrhunderts verfassten. Tahiti erstrahlte als leibhaftiger Ort der Idylle: edle Wilde, freie Liebe, amöne Landschaften, ewiger Sommer und Müßiggang – es lockte »ein ganz anderes« Leben bar jeglichen Zwangs, die Materialisierung meiner Visionen Arkadiens. Doch analog zum Südseetraum entlarvte sich das vermeintliche Elysium Hausprojekt als trügerische Illusion. Die zunächst heil wirkende Welt zeigte schnell Risse und glich sich dem Zustand des altvertrauten Jammertals an. Die Schuld an diesem Verfall suchte ich in der Vergiftung durch die bürgerliche Gesellschaft oder im pervertierten Alltag.

Begann das kollektive Wohnen mit zärt­lichen Anbändelungen, folgten unweigerlich tiefe Zerwürfnisse. Diverse Putzpläne, Plena und der Vorstoß meiner Mitbewohnerin, Kompetenzteams zur Optimierung häuslicher Abläufe zu bilden, pulverisierten meine libertinen Träume. Dem vormals proklamierten »phi­losophischen Lebensweg« entsagte man und machte es sich als Lehrer, IT-Spezialistin oder Kampagnenmanager bequem. Ein grässlicher Verdacht stieg in mir auf, während ich mich im Gefilde der Seligen wähnte, schienen meine Mit­bewohner die Zeit bis zur bürgerlichen Existenz in aufgeräumter Stimmung souverän zu überbrücken. Bald säugte man ein unablässig kotendes Bündel, das entweder geistlos lachte, maßlos schrie oder einem jauchzend an die Nase grapschte.

Mein Zimmernachbar Stephan ist ein linksradikaler Rentier, und Pensionäre reden gern von Vergangenem. Manchmal passt er mich in der Küche ab, zieht mich vertraulich zur Seite und rezitiert politische Heldenepen unseres Hausprojektes. Dabei senkt er geheimnisvoll die Stimme und chiffriert, untermalt mit die­sem enervierenden Zwinkern, Namen und Ereignisse. Ich verstehe nie ein Wort. Einstmals wollte er die Welt durch eine Revolution retten, heute verhindert er den ökologischen Kollaps mit regenera­tiven Energien. Die zu befreiende Natur dankt ihm seinen selbstlosen Einsatz mit einem manifesten bronchialen Spasmus und die geplagte Lunge surrt im sommer­lichen Gespräch munter vor sich hin.

Wie in manch altem Gemäuer geht ein Gespenst um in unserem Haus, das Gespenst des politischen Anspruchs. Die Materialisierung im Konkreten würde dem Spuk seine Macht rauben, uns vom lähmenden Blick auf die Vergangenheit erlösen und dem groben Unfug parapsychologischer Phänomene ein jähes Ende bereiten. Doch statt sich mit Hilfe der Ver­nunft von der Mystik zu befreien, wird auf Plena väterlich auf den politischen Anspruch verwiesen. Abruptes Verstummen – und ich fühle mich wie die fünfjährige Carole Anne aus »Poltergeist« in einer anderen Dimension gefangen.

Bleibt am Ende die Frage, warum man Insasse einer solchen Anstalt bleibt. Es drängt einen zur schmeichelnden Hand Blochs, des unnachahmlichen Trösters: Hoffnung könne zwar enttäuscht werden, diese Enttäuschung sei aber kein Grund zur Hoffnungslosigkeit. In ihrer bewundernswürdigen Sturheit geben die Menschen trotz aller Widrigkeiten die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht auf.

titus engelschall