Funky Familienpolitik

ESG, das Schwesternkollektiv aus der South Bronx, das in den frühen Achtzigern für Funk-Punk zuständig war, hat eine neue Platte produziert. von sonja eismann

Nur wenige Bands können für sich in Anspruch nehmen, bei epochalen Musikereignissen zugegen gewesen zu sein, die ­Paradigmenwechsel in der Popkulturhistorie bewirkten. Die New Yorker Band ESG, bestehend aus lauter Schwestern, kann es. 1982 trat sie mit ihrem radikal reduzierten Funk bei der Eröffnung des britischen Clubs Hacienda auf, der mit Auftritten von New Order, Birthday Party und The Smiths und vor allem höchst eklektischen DJ-Sets wie kein anderer die Entwicklung der Wave- und später der Rave-Szene vorantrieb. Und im Jahr 1987 stand sie bei der Abschlussnacht des House- und Discotempels Paradise Garage in New York auf der Bühne.

Trotzdem ist die Musik des Familienunternehmens aus der South Bronx immer nur ein hymnisch verehrtes AuskennerInnen-Ding geblieben. Auch das just erschienene neue Studioalbum »Keep On Moving«, das dritte in der fast 30jährigen Geschichte der Band, wird wohl wieder nur im Zirkel derer, die es eh schon wissen, mit begeisterten »Ahs« und »Ohs« herumgereicht werden. Das ist nicht nur schade, da es sich um eine herausragende Platte handelt, die in puncto Nackt- und Rohheit in der Soundproduktion ihresgleichen sucht, sondern auch fast ärgerlich, wenn man realisiert, wie stark die Musik der vergangenen Jahre von der Epoche der frühen achtziger Jahre geprägt ist, der wiederum die Band ESG maßgeblich ihren Stempel aufdrückte.

Ende der siebziger Jahre, so die gut dokumentierte Fama, sparte sich eine gewisse Ms. Scroggins genug Geld vom Munde ab, um ihre vier Töchter Deborah, Marie, Renee und Valerie mit einfachen Instrumenten auszustatten. Ihr Hauptanliegen war dabei, die Mädchen in ihrem völlig desolaten Teil der Südbronx von der Straße fernzuhalten. Die Teenager näherten sich ihren Instrumenten auto­didaktisch und mit Hilfe von Fernsehtutorials. Bei einigen Bandwettbewerben und Talentshows konnten sie mit ihrem an ihrer Vorliebe für James Brown geschulten Minimal-Funk aus Gitarre, Bass und Percussion reüssieren, doch der Groove kam erst richtig ins Rollen, als zufällig bei einem (nicht gewonnenen) Wettbewerb Ed Bahlman auf sie aufmerksam wurde.

Dieser betrieb das immer mit Finanznöten kämp­fende, dafür umso einflussreichere Label 99 ­Records, das mit Veröffentlichungen von Glenn Branca, Liquid Liquid und den Bush Tetras für die Etablierung des avantgardistischen New Yorker No-Wave-Sounds mitverantwortlich war. Bahlman gab den ESG-Schwestern einen Plattenvertrag und führte die afroamerikanische Band in weiße Artpunk-Kreise ein.

Martin Hannett, Produzent von Joy Di­vison bzw. New Order, nahm alsbald Ma­terial mit ESG auf, die Band stand mit Gang of Four, The Clash und A Certain Ratio auf der Bühne.

Trotz dieser Anbindung standen Renee, Valerie und Marie – Deborah verließ schon frühzeitig die Band – immer am Rande dieser Szene. Später wurden ESG auch vom HipHop entdeckt, dem sie freilich ebenfalls nie wirklich zuzurechnen waren. Das für die immer am Rande des Existenzminimums agierende Band eher leidvolle Thema des unbezahlten Samplens – die Sirene aus einem der bekanntesten ESG-Stücke, »UFO«, ist angeblich eine der meistzitierten Musiksequenzen im HipHop überhaupt – verhandelten die Schwestern sarkastisch auf ihrer 1992 veröffentlichten EP: »Sample credits don’t pay our bills.«

Dass sich Acts wie die Beastie Boys, der Wu Tang Clan und TLC ohne Gegenleistung bei ESG bedienten, bringt Renee Scroggins auch heute noch in Rage: »Natürlich kann man das als eine Hommage sehen – wenn man etwas dafür bekommt. Aber wenn mich jemand samplet und damit erfolgreich ist, ich währenddessen aber meine Kinder nicht ernähren kann, was soll das für eine Respekts­­bekundung sein?«

Die neue Platte, die mit ihrem Titel »Keep On Moving« das stoische Vorwärtsschreiten wie auch das Zirkuläre, Idiosynkratische von ESG beschreibt, klingt exakt wie die eigene Musik vor 25 Jahren und doch kein bisschen alt. Die neun neuen Tracks sind minimal, funktional, roh und bis aufs Äußerste skelettiert. Die Mission lautet, zumindest für die Band, die fast vollständig auf Zierrat wie konventionelle Melo­dien oder Akkorde verzichtet, ganz klar: tanzen lassen. »Wir haben uns immer als eine Dance Band verstanden«, stellt Renee Scroggins, der Kopf von ESG, in Abgrenzung zu Zuschreibungen wie »Art Funk Punk« oder ähnlichen von außen herangetragenen Etikettierungen klar.

Dass ESG sich stets in einem sehr hermetischen, selbstreferenziellen Universum bewegt haben und gerade deswegen ihren charakteris­tischen, einzig­artigen Sound aus ihren autodidaktischen Bemühungen destillieren konnten, hängt ohne Zweifel mit dem Umstand zusammen, dass die Band von Beginn an eine »family affair« war. Während mit Leroy Glover auf »Keep On Moving« ein Freund der Familie als »Special Guest ESG Member« auftreten darf, der auch schon in den achtziger Jahren an Platten beteiligt war, wird die Band jetzt permanent auch noch durch die Töchter der Schwestern verstärkt: Renees Tochter Nicole spielt Gitar­re, Valeries Tochter Chistelle bedient den Bass und diverse Percussion-Instrumente.

Damit funktioniert auch der Brückenschlag zwischen den Generationen, der die ESG-Produktionen paradoxerweise aber nicht durch aktuelle Einflüsse von außen verjüngt, sondern das Zeitlose am eigenen Sound erhält. »Natürlich höre ich sehr viel neue Musik aus allen Genres, aber wenn es um meine Ideen für ESG geht, versuche ich, dem speziellen Spirit dieser Band treu zu bleiben«, sagt Chistelle, die sich amüsiert erinnert, wie indifferent sie der Musik der »alten Ladies« zu Beginn gegenüberstand.

Aber auch auf einer universelleren Ebene bemüht sich die Schwester-Töchter-Gruppe um Anbindung. Um jüngeren Musikerinnen die Chance zu geben, gehört zu werden und sich ein Publikum zu erspielen, traten ESG jüngst auf einigen US-amerikanischen Ladyfesten auf: »Uns ist die Idee wichtig, Frauen, die sich in irgendeiner Form künstlerisch betätigen, zu unterstützen. Unsere Fans haben uns immer unterstützt, und wenn wir als Gegenleistung mit unserem Namen dazu beitragen können, dass viele Leute kommen und junge Frauen mit ihren Bands oder ihrer Kunst von einer breiteren Masse wahrgenommen werden, sind wir hoch erfreut.«

ESG: Keep On Moving (Soul Jazz/Indigo)