Hassan ohne Balance

Vieles spricht dafür, dass die Hizbollah sich verkalkuliert hat. Mit dem harten Vorgehen Israels hat sie offenbar nicht gerechnet. von jörn schulz

Nicht alle Islamisten streben nach dem Märtyrertum. »Es kann kein Ende des Jihad geben«, hatte der in Syrien geborene Prediger Omar Bakri in Großbritannien verkündet. Vor einem Jahr reiste er in den Libanon, und weil er mehrfach zur Gewalt aufgerufen hat, verweigert ihm das britische Innenministerium die Rück­kehr. Da ihm Beirut derzeit zu unsicher erscheint, wollte er sich am vergangenen Freitag zu von einem vor der Küste liegenden britischen Kriegsschiff evakuieren lassen. Da sein Pass abgelaufen ist, war er nicht willkommen an Bord.

Sheikh Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der Hizbollah, würde eine solche Verweichlichung vielleicht auf den zu langen Aufenthalt im Westen zurückführen. In einer von al-Manar, dem Fernsehsender der »Partei Gottes«, Ende Mai ausgestrahlten Rede pries er »die Bereitwilligkeit unseres Volkes und unserer Nation, ihr Blut, ihre Seelen, Kinder, Väter und Familien zu opfern«. Anders die Juden: »Ihr starkes Festhalten an dieser Welt mit all ihren Eitelkeiten und Vergnügungen stellt eine Schwäche dar.«

Nasrallah glaubte, es derzeit auch noch mit einer »schwachen Regierung« in Israel zu tun zu haben. Ein Anwalt als Ministerpräsident und ein ehemaliger Ge­werkschafts­chef als Verteidigungsminister – da erschien es unwahrscheinlich, dass die Regierung härter auf Provokationen reagieren würde, als der General a.D. Ariel Sharon es tat. Nasrallah war auch der Ansicht, dass die »mehr als 12 000 Raketen« der Hizbollah, die »den gesamten Norden des besetzten Palästina (gemeint ist Nordisrael, d. Red.) erreichen« können, eine »Balance« herstellen würden.

Möglicherweise handelte er auch unter dem Druck seiner syrischen und iranischen Unterstützer. Doch um die vom syrischen Präsidenten Bashar al-Assad gefürchtete Wiederaufnahme von palästinensisch-israelischen Friedensverhandlungen zu verhindern, hätten die Kämpfe in Gaza genügt. Und es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass das iranische Regime glaubt, die Eskalation im Libanon würde die Aufmerksamkeit von seinem Atomprogramm ablenken. Wer jedoch darüber nachdenkt, wie die Lage aussehen würde, wenn dem Iran bereits ein einsatzfähiges Atomwaffenarsenal zur Verfügung stünde, kann schwerlich zu dem Schluss kommen, dass man die Ayatollahs getrost weiter Uran anreichern lassen sollte.

Viel spricht dafür, dass die Hizbollah sich verkalkuliert hat. Gegenüber der ägyptischen Tageszeitung al-Ahram gab der libanesische Innenminister Ahmed Fetfet an, ein Beauftragter der Hizbollah habe ihn nach der Entführung der Soldaten ausgesucht und »vorhergesagt, dass die israelischen Militäroperationen begrenzt sein und sich auf die Bombardierung von ein paar Brücken im Süden beschränken werden«.

Dass ihr Ziel die Vernichtung Israels ist, hat die Hizbollah nie verborgen. Andererseits achtete die islamistische Partei bislang immer darauf, ihre innenpolitische Macht nicht zu gefährden. Denn nur diese Verankerung erlaubt es der Hiz­bollah, die von ihr angestrebte Rolle als Vorbild für den islamistischen »Widerstand« zu spielen und regionalen Einfluss zu gewinnen. Ein Gefangenenaustausch wäre ein Propagandaerfolg für die Hizbollah gewesen, und schließlich hatte Israel sich noch vor zweieinhalb Jahren auf ein solches Geschäft eingelassen.

Im Austausch gegen 401 palästinensische und 23 libanesische Gefangene erhielt Israel damals die Leichen dreier von der Hizbollah getöteter Soldaten, zudem ließen die Islamisten Ehanan Tennenbaum frei. Doch Tennenbaum war, anders als die Mitte Juli gekidnappten Soldaten, im Libanon entführt worden. Wohl gerade weil die von Ehud Olmert geführte israelische Regierung beabsichtigt, den größten Teil der Westbank auch ohne ein Abkommen mit den Palästinensern zu räumen, entschied sie sich für eine militärische Reaktion, die weit über das im Rahmen der Konfrontationslogik übliche Maß hinausgeht. Nur wenn die Israelis erwarten, nach dem Rückzug sicherer zu leben, kann die Regierung ihre Pläne durchsetzen.

Mit einer »Shock and Awe«-Kampagne soll eine abschreckende Wirkung erzielt werden. »Die Zurückhaltung, die wir in den vergangenen Jahren gezeigt haben, wurde von den Terroristen als Schwäche interpretiert«, stellte Generalstabschef Dan Halutz fest. Nun werden auch Ziele bombardiert, die der Hizbollah in diesem Konflikt schwerlich von Nutzen sein können. Andererseits aber könnte das israelische Militär noch weit größere Zerstörungen anrichten. Ein Offizier, der namentlich nicht genannt werden wollte, sagte bei einem Briefing im Verteidigungsministerium der Jerusalem Post, das Militär sei »sehr vorsichtig, damit wir genug Druck auf die libanesische Regierung ausüben, um die Situation zu ändern, aber nicht so viel, dass sie stürzt«.

»Wir wissen, dass es keinen militärischen Weg gibt, die Hizbollah zu neutralisieren«, sagte Mark Regev, der Sprecher des israelischen Außenministeriums. »Der einzige Weg, das zu tun, ist, die internationale Gemeinschaft und ihre Entschlossenheit zu mobilisieren.« Die israelische Regierung hofft, die Hizbollah militärisch hinreichend schwächen zu können. Wenn das geschehen ist, sollen die internationalen Vermittler und eine Friedenstruppe im Südlibanon dafür sorgen, dass die Jihadisten nicht zurückkehren. »Wir werden keine Fahnen der Hizbollah mehr nahe der israelischen Grenze wehen sehen«, erklärte Regev ka­tegorisch.

Doch die Verhältnisse im Irak und in Afghanistan zeigen, wie schwer es konventionellen Armeen fällt, islamistische Terrorgruppen zu besiegen. Zudem sind die Kämpfer der Hizbollah gewissermaßen die Special Forces des Jihadismus, nicht nur zum »Märtyrertum« bereit, sondern auch militärisch gut ausgebildet. Bei den ersten Bodenkämpfen wurden bereits fünf israelische Soldaten getötet.

Wie eine diplomatische Lösung aussehen könnte, ist noch unklar. Eine Friedenstruppe müsse »robust genug« sein, um eine Rückkehr der Hizbollah in den Südlibanon zu verhindern, sagte US-Außenministerin Condoleezza Rice. Allein die Aussicht, möglicherweise in Kämpfe mit den Jihadisten verwickelt zu werden, dürfte dafür sorgen, dass der Andrang sich in Grenzen hält, wenn eine solche Truppe zusammengestellt werden sollte. Zudem muss auch die Regierung des Libanon der Stationierung zustimmen.

Gänzlich aussichtslos ist das Unterfangen jedoch nicht. Auch die meisten arabischen Regierungen fürchten einen Macht­zuwachs der Hamas, der Hizbollah und des Iran. Und im Libanon ist nicht nur Fetfet der Ansicht, die Hizbollah habe »uns dahin gebracht, wo wir jetzt sind«, auch wenn dies »die israelische Aggression nicht rechtfertigt«. Man muss die Israelis nicht lieben, um die Hizbollah zu hassen. Die Konfrontation mit Israel behindert die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, dessen an sich sehr geschäftstüchtiger Oligarchie es nach dem Abzug der syrischen Truppen leichter fallen könnte, mit Israel über einen Friedensvertrag zu verhandeln. Allerdings dürften nur die wenigsten Libanesen bereit sein, einen neuen Bürgerkrieg zu riskieren, um die Hizbollah zu entwaffnen. Vor einem solchen Schritt warn­te Nasrallah bereits im vergangenen Jahr: »Wenn irgendjemand, egal wer, auch nur darüber nachdenkt, uns zu entwaffnen, werden wir ihn bekämpfen.«