Elfen brauchen kein Aluminium

Im Osten Islands wird einer der größten Staudämme Europas gebaut. Viele Einwohner der Region protestieren gegen das Projekt. von fabian frenzel (text und fotos)

Wir stoppen für eine Stunde, dort hinten ist der Wasserfall. Sie können ihn nicht verpassen«, ruft der Busfahrer nach hinten zu den Passagieren, nachdem er den Bus geparkt hat. »Noch ein Wasserfall«, stöhnt jemand gelangweilt aus einer hinteren Reihe. Wie die meisten Fahrgäste bleibt er lieber sitzen. Ich krame meinen Poncho aus der Tasche, ziehe die warme Jacke fest zu und steige aus.

Auf dem Parkplatz peitscht mir kalter Regen ins Gesicht. Die Sicht ist ganz gut, ca. 100 Meter weit, der Wind weht kräftig, die Wolken sind nah, beinahe mit den Händen zu greifen, grau und schwer, ich schätze die Temperatur auf acht Grad. Ich blicke mich um, es stehen zwei Landrover auf dem Parkplatz, etwa 30 Meter entfernt führt ein Fluss braunes Wasser zum Tal. Am Rande des Parkplatzes steht eine kleine Hütte, für den Fall, dass man hier stecken bleibt in richtig schlechtem Wetter. Aber sonst gibt es keine Häuser weit und breit, nur Felswände, rostig rot, dunkelgrüne Wiesenstücke mit vielen klei­nen bunten Blüten, höher liegen Schneefelder in karstigen Bergen, in denen die Wolken hängen bleiben.

Von richtig schlechtem Wetter kann heute nicht die Rede sein, hier in der Mitte von Island, näher an Grönland als an Europa, Ende Juli und in etwa 500 Metern Höhe, 20 Minuten Fußmarsch vom berühmten Wasserfall der Eldgja-Schlucht entfernt. Ich ziehe mir den Poncho über und mache mich auf den Weg am Flussufer hinauf, entlang eines Pfades, der von Touristenschritten deutlich markiert ist, um mir ein weiteres Beispiel der Kraft des Wassers anzuschauen, die der Grund für all die Aufregung ist, die Island derzeit umtreibt.

Der Pfad schlängelt sich um eine Biegung, so­dass bald der Parkplatz und der Bus verschwun­den sind. Kurz darauf kommen mir die Insassen der Landrover entgegen. »Und«, frage ich im Vorübergehen, »wie ist er?« »Ist schon toll, aber schlechtes Licht zum Fotografieren«, antwortet mir einer der Touristen. Ich nicke und gehe weiter, den Pfad entlang, der sich jetzt näher an den Flusslauf legt, weil das Tal sich hier verengt, zur Schlucht wird. Das Rauschen des Wassers wird lauter.

Der Weg führt nun über einzelne große Felsbrocken am Ufer des Flusses, ein zweites, tiefe­res Rauschen legt sich über das unmittelbare des vorbeifließenden Wassers. Ich gehe weiter, schneller jetzt, und blicke nach vorne, wo sich hinter einem Felsvorsprung auf der anderen Uferseite die Quelle des tosenden Rauschens vermuten lässt. Einige Meter weiter kann ich ihn dann sehen, den Wasserfall, 200 Meter tief bricht das Wasser herunter, knallt auf die Felsen, schäumt auf in Gischt, die der Wind durch das Tal bläst. Ich eile weiter, bis ich das Schauspiel voll im Blick habe, und halte inne.

Bei allem sorgsam antrainierten Zynismus, problematisierten Erwartungen an »Landschaft und Leute«, im vollen Bewusstsein der üblen Zerr­bilder des touristischen Blickes, angesichts der isländischen Landschaft will er einfach nicht stumpf werden, der Entdeckersinn. Ein wildes, ungezähm­tes Naturschauspiel von Wasser, Wind, Gischt und Krach eröffnet sich mir. Nach einigen Minuten muss ich zurück, denn mein Linienbus durch die isländische Wildnis wartet ja nur eine Stunde und fährt dann weiter.

Island erscheint wie gemacht für ro­mantische Gefühle. Die Landschaf­ten sind oft unberührt oder zumindest un­verändert von Eingriffen des Menschen. Die Isländer haben in der mehr als 1 000jährigen Geschichte der Besiedlung der Insel einen Vorrat an My­then entwickelt, die dem Erhabenen in der Landschaft kulturell Ausdruck verleihen. Es scheint, als lägen große Teile der Insel in einer Periode vor der Entzauberung der Welt. Hinzu kommt, dass die Sagen von Geistern und Elfen weiterhin von vielen Isländern ernst genommen werden. Die Urteile von menschlichen »Medien«, »Elfenexperten«, die vor Bauprojekten in Island oft zu Rate gezogen werden, können schon mal den Verlauf einer neuen Straße beeinflussen.

Auf dem Rückweg vom Wasserfall denke ich an die ersten Eindrücke von der Insel, an den Weg vom Flughafen nach Reykjavik und den Blick auf die Landschaft, die dort ganz flach ist, wie eine schwarze Fels­wüste links und rechts der Straße. Da­zu gab es hellen Sonnenschein bei 16 Grad, eine durchaus angenehme Abwechslung nach 35 Grad in Berlin. Das Zentrum von Reykjavik, der Hauptstadt, in der die Hälfte der 300 000 Bewohner Islands lebt, war voller Menschen, die die rare Sommersonne genossen.

30 Tage im Jahr gebe es hier solches Wetter, hatte mir der Taxifahrer gesagt. »Sie ha­ben viel Glück.« Vor den Cafés der Flaniermeile Laugavegur standen die Tische auf der Straße, und es wimmelte von Touristen. Am zentralen Platz, dem Austurvöllur im Zentrum der Stadt, saßen Menschen auf der Wie­se, jung und hip, fast wie aus einem Reklamespot entsprungen sahen die aus, die da Bier tranken und sich unterhielten. Nicht wie in einer Kleinstadt, sondern wie in einer Metropole, bloß eben einer sehr kleinen. Ich traf Helena, eine Künst­lerin und Angehörige der Umweltgruppe »Freunde Islands«. Sie führte mich in die Politik des Landes ein, den großen Konflikt um die Energie und das Alumi­nium, der sich derzeit auf der Insel abspielt.

»Das Problem ist der isländische Min­derwertigkeitskomplex«, sagte Helena. »Seit einigen Jahren redet alle Welt von Globalisierung, da denkt sich die isländische Regierung: Das ist das neue große Ding, da wollen wir auch mitmachen.« Der Plan ist verlockend und einfach. Die Geographie macht Island zu einem riesigen Wasserkraftwerk. In den 2 000 Meter hohen Bergen im Landeszentrum fällt viel Niederschlag, der Gletscher bildet und reißende Flüsse. Man muss nur eines tun, um diese Energie zu gewinnen: Staudämme bauen. »Und jemanden finden, der viel billigen Strom braucht: die Aluminiumindustrie«, ergänzte Helena.

Zurück im Bus geht die Reise weiter. Der Regen ist stärker geworden und die Piste führt durch einige tiefe Flussfurten. »Versuche, dein Gepäck auf das Gepäck von anderen zu legen«, hatte mir jemand empfohlen, der Gepäckraum wird schon mal geflutet. Es geht hinaus aus den Bergen zur Küste und von dort nach Osten. Der Bus bringt mich bis zu einem Ausläufer des Vatnajökull-Gletschers. Nach einer Nacht in der Nähe der größten zusammenhängenden Eismasse außerhalb der Polarregionen trampe ich weiter in Richtung Osten. Auf dem Weg zu einer der größten Baustellen Europas, dem Karahnjukar-Staudamm.

Island hat weit mehr Energie, als es selber braucht. In Reykjavik kann man an den Strand gehen und im Meer schwimmen. Das Nordmeer wäre bei rund fünf Grad natürlich etwas kalt für Badespaß, aber die Isländer haben vorgesorgt. In einer kleinen Bucht mischen sie das Meerwasser mit heißem Wasser aus der Tiefe. Auch Heizenergie und Strom gewinnt man in Island aus dem heißen Wasser unter der Erde, und wo das nicht reicht, wie zum Beispiel im Osten des Landes, gibt es Wasserkraftwerke. In Island werden Strom und Wärme völlig ohne fossile Energieträger hergestellt, Energie kostet die glücklichen Isländer prak­tisch nichts.

»Sind die Isländer glücklich?« fragte eine englischsprachige Wochenzeitung in Reykjavik. Ausgangspunkt war eine Statistik, derzufolge die Isländer die glücklichsten Menschen der Welt sind. Ohne Frage sind sie wohlhabend, sie haben die dritthöchste Wirtschaftsleistung pro Kopf, auf dem Human Development Index der Uno belegen sie den zweiten Platz. Die monatliche Sozialhilfe beträgt 900 Euro, es herrscht Arbeitskräftemangel.

Bis vor einiger Zeit allerdings konzentrierte sich die ökonomische Aktivität der Insel auf Reykjavik und Akureyri im Norden. Im Osten des Landes, 800 Kilometer von Reykjavik entfernt, wo bloß die Fischindus­trie dahinsiechte, gab es nichts zu tun. Landflucht setzte ein, Dör­fer schrumpften und drohten auszusterben. Die Gemeinden im Osten überzeugten die Regierung, dass etwas geschehen muss.

Ein Staudamm und eine Aluminiumfabrik, die die Elektrizität des Staudammes nutzt, so etwas hatte man zuvor in kleinerem Umfang im Westen des Landes realisiert. Mit dem größten Aluminiumproduzenten, der US-Firma ­Alcoa, fand man ­einen an billiger Energie interessierten Partner. Das Unternehmen wollte Aluminiumschmelzen in Norwegen und den USA stilllegen, wo der Strom zu teuer geworden war.

Die Suche nach einem Ort für den Damm begann bereits Ende der neunziger Jahre. Im Jahr 2001 wurde der erste Vorschlag endgültig abgelehnt. Zu viele Isländer nutzen die betroffene Region für Ausflüge und wollten sie nicht verlieren. Der zweite Vorschlag, Karahnjukar, löste zunächst weniger Kritik aus.

»Die Leute kennen die Gegend nicht, die hier überflutet werden soll, niemand interessierte sich dafür, und lokal schien es nur Befürworter zu geben«, erklärte mir Helena. Dabei hatten die Umweltverträglichkeitsprüfer der is­län­dischen Umweltbehörde auch den zweiten Stand­ort verworfen. Der Umweltminister über­ging jedoch seine eigene Behörde und genehmig­te das Projekt, die Elfenexperten wurden nicht gefragt. Seit dem Jahr 2003 sind der Damm und die Fabrik beschlossene Sache und es wird gebaut.

»Viele Leute waren zunächst desillusioniert, und die Sache ging ihren Gang. Aber seit zwei Jahren wächst der Widerstand wieder. Alcoa und die Regierung planen mehr Aluminium­fabriken und Dämme. Außerdem ist jetzt einfach deutlich geworden, welchen Effekt die Baustelle auf den Osten Islands hat. Geh, schau es dir an«, hatte Helena gesagt.

Der Vorteil am Trampen ist, dass man mit Einheimischen in Kontakt kommt. Es gibt natürlich auch Nachteile. Ich stehe mal wieder an so einer verlassenen Stelle im Niemandsland an einem der Ost­fjorde. Es ist sieben Uhr am Abend, es nieselt, ich bin etwas müde. Wenigs­tens wird es hier nicht früh dunkel. Nach einer sehr langen Viertelstunde kommt das erste Auto, es hält an.

»Was machst du denn hier?« fragt mich lachend ein junges Pärchen im Jeep. Es ist auf dem Weg nach Faskrudsfjördur. Hilmar stammt von dort, er lebt schon lange in Reyk­javik und hat seine Freundin mitgebracht für das Sommerfest, die große Zusammenkunft von Freunden und Familien im Dorf. Ich entschließe mich mitzukommen. Am großen Feuer werden isländische Volkslieder gesungen, die sich anhören wie deutsche Volkslieder mit isländischen Texten, alle Generationen nehmen teil daran. Später gibt es noch ein Feuerwerk.

Der Ort ist eines dieser Fischerdörfer, das die Regierung mit dem Dammprojekt retten wollte. Im Nachbarfjord wird die Schmelze gebaut. »Ohne den Damm und die Fabrik gäbe es dieses Fest nicht«, jubelt Hilmars Bruder. Er ist Klempner und vor zwei Jahren zurückgekehrt nach Faskrudsfjördur, denn es gibt hier Arbeit für ihn, in der Aluminiumfabrik, in der Betonfabrik, die gebaut wurde, um die Aluminiumfabrik zu bauen, in den Häusern, die gebaut werden, um die Arbeiter unterzubringen. »20 Jahre lang wurde hier kein Haus gebaut, jetzt bauen sie überall«, freut er sich.

Am nächsten Morgen befinde ich mich auf dem Weg zum Dammprojekt. In Egilsstadir, der kleinen Provinzhauptstadt des Ostens, herrscht offensichtlich auch ein Bauboom. Ich stoppe beim Schwimmbad und treffe auch hier auf einen Einwohner. Während wir im 42 Grad warmen Pool schwitzen, outet er sich als Dammgegner. »Ich war immer dagegen, meine Frau und meine Freunde auch«, sagt er. »Aber am Anfang haben wir nichts gesagt. Es war klar, dass etwas passie­ren musste hier, ökonomisch, und wir wollten nicht die Miesepeter sein.« Derzeit bringt er alle seine Bekannten aus Island und dem Ausland in die Gebiete, die überflutet werden sollen. Und er erzählt von zwei Frauen, die professionelle Touren anbieten: Besuchen Sie Karahnjukar, solange es noch geht.

»Der Boom ist eine Seifenblase: Mil­liarden von Euro werden in der Region verbaut, natürlich gibt es da einen Boom. Die Frage ist, ob das von Dauer ist.« Arbeiter und Inge­nieure aus Polen, China, Portugal und Italien besorgen den Aufbau von Damm und Fabrik. Sie leben buchstäblich in trans­nationalen Zonen, außerhalb des islän­dischen Sozialsystems und mit an die Vermittlungs­firmen geknüpfter Aufenthaltserlaub­nis. »Natürlich verschwinden diese Jobs, wenn die Sache fertig ist. Was bleibt, sind dann bloß die Beschäftigten in der Schmelze, Abgase und eine überflutete Landschaft. Und dass einige unserer Politiker sehr viel reicher sind als zuvor.«

Eineinhalb Stunden von Egilsstadir entfernt, oben in den Bergen, liegt das Protestcamp der »Freunde Islands«. Hier treffe ich Helena wieder, wir gehen zum Aussichtspunkt der Dammbaustelle. Von hier wollen die rund 100 internationalen Umweltaktivisten des Protestcamps einen Picknickausflug unternehmen. Ich sehe den Damm das erste Mal, riesengroß ist er und fast fertig.

»Wir hören eine Menge dieser Kritik, dass die Protestierenden alle Ausländer seien. Aber das ist wirklich ironisch. Alles ist global an dieser Baustelle, das Kapital, die Arbeit, aber der Protest soll plötzlich nicht authentisch sein, weil er auch von Ausländern getragen wird.« Das Protestcamp hält die isländische Polizei auch heute wieder in Atem. Mit ihren 673 Männern im ganzen Land regelt sie normalerweise nur den Verkehr. Europäische Ökoaktivisten, die sich auch gerne mal an den Bull­dozer ketten, sind eine neue Herausfor­de­rung für das kleine Sonderkommando, die Viking Squad, die eigentlich bei Bankeinbrüchen und Entführungen ein­gesetzt wird.

Mühelos springen die Protestierenden an den schüchternen Beamten vorbei. Erst als wir schon beinahe an der Staumauer angekommen sind, hat die Polizei genug Leute beisammen, um den Protest zu stoppen. Es gibt ein paar Ran­geleien, ein bisschen Geschubse, und die isländischen Medien berichten am nächsten Tag wie üblich. Allerdings gibt es auch sonst nicht viel zu berichten in Island.

»Der Protest hat immer mehr Rückhalt in der isländischen Gesellschaft gefunden«, sagt Helena. »Wir hatten im Mai eine Demonstration mit 3 500 Leuten, eine der größten des Landes. Inzwischen lehnt die Hälfte aller Isländer den Damm und die Schmelze ab.«

Ich bin vom Picknick müde. Im Protestcamp spielt am Abend die isländische Band Sigur Rós. Die haben gerade eine Welttournee hinter sich, sind erfolgreich und auch gegen den Staudamm. Ihre Musik klinge, wie isländische Landschaf­ten aussehen, sagen die Fans. Die Ökoaktivisten werden zu Festivalbesuchern, die Location ist außergewöhnlich schön und sehr vergänglich. Wenn die Elfen nicht doch noch eingreifen, wird das riesige Staubecken ab Ende September geflutet.