Señor Lopez will es wissen

Mit einer Blockade in der Hauptstadt wollen Anhänger des linken Präsidentschaftskandidaten López Obrador eine Neuauszählung der Stimmen durchsetzen. von wolf-dieter vogel, mexiko-stadt

Ungewöhnliche Kontraste prägen derzeit das Bild von Mexikos Prachtstraße »La Reforma«: Zwischen dem Edelhotel Sheraton und der Börse spielen Jugendliche aus den Armenvierteln Streetball, während sich ihre großen Schwestern beim Karaoke vergnügen. Wenige Meter weiter heizt die Ska-Band Panteón Rococó ein, der Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II gibt kostenlos Unterricht über die Geschichte des Landes, und wer will, kann sich an jeder Ecke den Film »Wer ist Señor López?« anschauen.

Gäbe es ihn nicht, diesen Señor Andrés Manuel López Obrador, bliebe den Bewohnerinnen und Bewohnern von Mexiko-Stadt dieses Spektakel erspart. Dennoch ist das acht Kilometer ­lange Zeltlager, mit dem An­hänger des gemäßigt linken Poli­tikers seit über drei Wochen das Zentrum der Metropole blockieren, längst mehr als eine Protest­aktion gegen einen möglichen Wahlbetrug. Die Armen haben sich die nobelste Straße der Hauptstadt angeeignet.

Arm gegen Reich, auf diesen simplen Nenner kann man die Auseinandersetzungen um die mexikanischen Präsidentschaftswahlen bringen. Es sind die Straßenhändler, die schlecht bezahlten Arbeiter, die Marktfrauen aus den armen Barrios, die seit jenem Wahltag, dem 2. Juli, für eine komplette Neuauszählung kämpfen. Mobilisiert von López Obrador und seiner Partei der Demokratischen Revolution (PRD) fordern sie: »Stimme für Stimme, Wahllokal für Wahllokal«. So wollen sie beweisen, dass der konservative Felipe Calderón durch einen Wahlbetrug gewonnen hat. In 72 000 der insgesamt 130 000 Wahlbüros habe es Unregelmäßigkeiten gegeben, kritisierte der PRD und klagte vor dem Bundeswahlgericht. Calderón von der Partei der Nationalen Aktion (Pan) gewann mit einem Vorsprung von 244 000 Stimmen, also 0,58 Prozent.

Fast täglich treten die Aktivisten in Erscheinung. Sie blockieren die Eingänge internationaler Banken, besetzen Mautstationen oder demonstrieren. Dennoch erteilte ihnen das Wahlgericht Anfang des Mo­nats eine deutliche Absage. Nur die Stimmzettel aus knapp 12 000 Urnen sollten noch einmal gezählt werden, eine Entscheidung, die López Obrador nicht anerkennt: »Warum sollen nur neun Prozent der Lokale überprüft werden, wenn doch in 62 Prozent die gleichen Fehler und Merkmale auftauchen?«

Ohnehin bestätigte die partielle Nachzählung nur die jeweiligen Positionen der Konfliktparteien. »Wenn man die Urnen annullieren würde, in denen nachträglich zu viele oder zu wenige Stimmen gefunden wurden, müsste man anerkennen, dass wir die Präsidentschaft der Republik gewonnen haben«, sagte López Obrador. Nicht minder selbstsicher reagierten die Konservativen. Nur bei zwei Prozent der Urnen habe man bei der Nachzählung »unbedeu­tende« Fehler festgestellt, erklärte der Pan-Sprecher César Nava.

Genervt sind nicht nur die Autofahrer, die stunden­lange Staus im Zentrum von Mexiko-Stadt in Kauf nehmen müssen. Unternehmerverbände beklagen die Millionenverluste durch das Protestcamp. 138 einflussreiche liberale Intellektuelle riefen den PRD zur Mäßigung auf. Man dürfe das politische Klima nicht vergiften, indem man den Gegner wie einen Feind behandle, warnen sie in einem offenen Brief. »Er will auf der Straße gewinnen, was er an den Urnen verloren hat«, bescheinigte der Sozialwissen­schaftler Alberto Aziz Nassif dem PRD-Mann López Obrador.

Ein Blick auf die Transparente, Plakate und Schilder im Protestcamp verweist in der Tat nicht gerade auf eine deeskalierende und differenzierte Haltung der PRD-Aktivisten: Präsident Vicente Fox (Pan) wird als Ratte oder Schwein dargestellt, Calderón-Plakate werden mit Hakenkreuzen angereichert, die »Verräter des Vaterlands« mit Prostituierten verglichen. Befremdlich ist auch die Sicherheit, mit der sich López Obrador als Sieger darstellt, der die Amtseinsetzung eines »illegitimen und illegalen Präsidenten« verhindern werde. Bislang konnte der PRD seine Vorwürfe nicht belegen. Auch Ted Lewis von der US-amerikanischen NGO Global Ex­change, der die Auszählung beobachtet hat, sagte: »Wir haben keine Hinweise für einen groß angelegten Wahlbetrug festgestellt.«

Dennoch wurden offenbar mehr Stimmzettel zugunsten des Pan hinzugefügt oder unterschlagen als zugunsten des PRD. Die Linken konnten in etwa 30 Prozent der Wahllokale keine Beobachter stellen, und das hat in einem von Korruption geprägten Land schwerwiegende Folgen. Angesichts des knappen Ergebnisses könnte das den PRD-Kandidaten um seinen Sieg gebracht haben. Auch Lewis fordert deshalb eine komplette Neuauszählung. Wahrscheinlich wäre aber damit nicht viel gewonnen. »Wenn López Obrador mit 0,5 Prozent vorne liegt, geht das Theater von der anderen Seite los«, meint der Soziologieprofessor Sergio Zermeño. Der Wissenschaftler plädiert dafür, dass in diesem Fall ein Inte­rimspräsident eingesetzt wird. »Sowohl Calderón als auch López Obrador können nicht mit einer so knappen Mehrheit regieren.«

Doch in den Reihen des PRD setzt man immer weniger auf einen Sieg durch Aus­zählung. Parteisprecher Gerardo Fernan­dez erklärte Ende der vergangenen Woche, er habe keine Hoffnung mehr, dass das Wahlgericht ihren Kandidaten nachträglich zum Sieger erklärt. López Obrador selbst hat zum Aufbau eines Parallelsystems aufgerufen, um »die Armut und die monströse Ungleichheit zu bekämpfen« und die »Privatisierung des Erdöls, der Stromindustrie, des Bildungssystems, des Sozialsystems und der natürlichen Ressourcen zu verhindern«. Vertreter von Dorfversammlungen, Gewerkschaften, politischen Organisationen etc. sollen einen »Nationalen Demokratischen Konvent« gründen, der Entscheidungen trifft und Maßnahmen zu ihrer Durchsetzung organisiert.

Der Konvent soll sich das erste Mal am 16. September, dem nationalen Unabhängigkeitstag, im Zentrum der Hauptstadt zusammensetzen. Angesichts der angespannten Stimmung könnte die Situation aber vorher eskalieren. In der vergangenen Woche gingen Sicherheitskräfte erstmals mit Tränengas und Schlagstöcken gegen PRD-Aktivisten vor. Die Demonstranten hatten versucht, sich mit ihren Zelten am Bundesparlament niederzulassen. Am 1. September wird Präsident Fox dort seinen letzten Rechenschafts­bericht ablegen. Der PRD hat dazu aufgerufen, an diesem Tag das Abgeordnetenhaus zu belagern.

Bis zum 6. September muss das Wahlgericht einen neuen Präsidenten ernennen. Wie auch immer die Entscheidung ausfällt, sie wird die gesellschaftliche Polarisierung nicht aufheben. Sechs Jahre lang hat der Pan das Land regiert, und seine liberale Wirtschaftspolitik hat die sozialen Gegensätze verschärft. Der Wahlkampf hat der armen Bevölkerung diesen Kontrast vor Augen geführt: Ein Telekommunikationsgesetz zugunsten der großen Medienunternehmen hat dafür gesorgt, dass diese sich hinter den Pan gestellt und López Obrador als »Gefahr für Mexiko« denunziert haben. Solche Erfahrungen zählen derzeit mehr als wahlarithmetische Fragen oder differenzierte Analysen. Nicht der mut­maßliche Wahlbetrug treibt die Armen letztlich auf die »Reforma«. Es ist die diffuse Hoffnung, dass ihnen ein populärer Politiker zu einer besseren Zukunft verhilft. Und es ist der Wille, nicht wieder zu den Verlierern der Geschichte zu gehören.