»Die Kollegen sind eingeschüchtert«

Ein Gespräch mit einem Pfleger an der Berliner Charité über den Arbeitskampf an diesem Klinikum

Am Berliner Universitätsklinikum Charité wurde zwei Wochen lang gestreikt. Nach jahrelangen ergebnislosen Verhandlungen fordert Verdi einen neuen Tarifvertrag für rund 10 000 Beschäftigte. Am Freitag wurde der Streik ausgesetzt, um die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Martin Rühle (Name von der Red. geändert) ist Pfleger an der Charité und in der unabhängigen Basisgruppe Gesund und Munter aktiv (www.gesundundmunter.tk), für die er aber nicht stellvertretend spricht.

Ist die neue Konkurrenz durch die Ärztegewerkschaft Marburger Bund ein Grund für Verdi, nach 26 erfolglosen Verhandlungsrunden doch noch die Charité zu bestreiken?

Verdi steht unter starkem Druck, sich gegenüber den Arbeitgebern als Verhandlungspartner zu behaupten, seit sich der Marburger Bund, der an der Charité in Form der Ärzteinitiative auftritt, aus der Tarifgemeinschaft abgespalten hat. Denn bislang ist der Marburger Bund erfolgreich mit seiner Taktik, die Ärzte unabhängig von anderen Berufsgruppen zum Streik aufzurufen. Der Haupt­grund für den Streik sind aber die Frechheiten des Vorstands der Charité. Verdi verlangt seit Jahren ein verhandlungsfähiges Angebot, aber es kommt immer nur die Ansage: Wir müssen 40 Millionen beim Personal einsparen – durch Entlass­ungen, Lohnsenkungen oder beides.

War der Ärztestreik also ein Motor für Arbeitskämpfe im Gesundheitswesen, oder wirkt er spaltend, indem er ständisch-elitär nur die Ärzte organisiert?

Die Ärzteinitiative in Berlin hat für ihren Streik im Frühjahr stark mobilisiert, die Beteiligung war hoch und es gab mehrere Demonstrationen. Die Pfleger haben sich zwar vergessen gefühlt, aber es wurde endlich wieder darüber geredet, dass man etwas tun kann, anstatt über die beschissene Situa­tion nur zu jammern. Teilweise gab es sogar ein gewisses Verständnis für die Abspaltung der Ärzte, denn Verdi war ja tatsächlich jahrelang passiv.

Wie verhalten sich die Ärzte im gegenwärtigen Streik?

Die Ärzteinitiative hat sich solidarisch erklärt, aber zumindest Teile der Oberärzte haben versucht, den Streik zu brechen. Um nicht nur die unverzichtbaren Not-OPs zu machen, wurden Assistenzärzte an Stelle der Pflegekräfte eingesetzt.

Verdi fordert nicht nur 4,4 Prozent mehr Lohn, sondern richtet sich auch gegen die Pläne, die Charité zu zerschlagen und zumindest teilweise zu privatisieren. Weicht das nicht vom üblichen Co-Management der Gewerkschaften ab – zumal wenn man bedenkt, wie stark der Druck des Ka­pitals ist, das Gesundheitswesen in eine profi­table Anlagesphäre zu verwandeln?

Diese Lohnerhöhung hätte es schon 2002 gegeben, wenn der rot-rote Senat nicht aus der Tarifgemeinschaft der Länder ausgeschert wäre. Verdi sagt selbst, dass die Charité dadurch 20 Millionen Euro pro Jahr ein­gespart hat. Insofern ist die Forderung nicht besonders weitgehend. Die Privati­sierung wiederum hat bereits begonnen, und Verdi war ziemlich still. Der gesam­te Bereich Gebäudereinigung, Catering usw. wurde in ein neues Unternehmen ausgelagert, an dem der Dussmann-Kon­zern beteiligt ist. Dabei ging es zum Teil sehr ruppig zu. Betriebsräte aus vor­mals beauftragten Firmen wurden häufig nicht übernommen. Mitarbeiter, die Verträge neu erhielten, mussten diese teilweise innerhalb weniger Stunden un­terschreiben, was gerade für Kolleginnen mit geringen Deutschkenntnissen mies war.

Die Arbeitsbedingungen in dem neuen Unternehmen sind schlecht. Überstunden gelten laut Vertrag als bezahlt, die Arbeit wurde ungeheuer verdichtet. Selbst in Zimmern mit immungeschwächten Patienten wird jetzt weniger gereinigt. Diese Kollegen sind allerdings so eingeschüchtert, dass es schwierig ist, Genaueres über ihre Si­tua­tion herauszubekommen.

Wie stark hat sich der politische Druck, die Kosten zu senken, auf die Situation der Patienten und die Arbeitsbelastung der Pfleger ausgewirkt – und spielt das im Streik eine Rolle?

In den Forderungen von Verdi taucht das überhaupt nicht auf. Die Gewerkschaft könnte ihren Apparat dazu nutzen, die immer schlechteren Zustände in den Krankenhäusern publik zu machen, aber das geschieht kaum. Das liegt allerdings auch an der Passivität der meisten Mitglieder von Verdi, die im Unterschied zu den Funktionären diese Zustände täglich mitbekommen. Anders als noch vor ein paar Jahren wird heute die »ausreichende Pflege« vorgeschrieben – nicht die »optimale Pflege«, wie man in einem reichen Land erwarten könnte.

Der Kostendruck wird so nach unten an die einzelnen Arbeiterinnen weitergegeben, die konkret überhaupt nicht wissen, welche Arbeit sie nun machen und welche sie liegenlassen sollen. Als Pfleger stehst Du dadurch in einem permanenten Entscheidungskonflikt: Was ist notwendig, was ist zuviel? Das drückt auf die Laune, was die Patienten natürlich zu spüren bekommen.

Anders als Verdi greifen Ihre Kollegen und Sie diese Zustände in Ihren Flugblättern an. Stößt das auf Zustimmung? Und könnte sich so die Perspektive eröffnen, über die Lohnkämpfe hinaus den Charakter der Arbeit zu kritisieren?

Den Beschäftigten geht es nicht nur um die mie­sen Löhne und die langen Arbeitszeiten. Schließ­lich haben die Kollegen einen Anspruch an ihre Arbeit, den sie immer öfter nicht mehr erfüllen können. Insofern stoßen wir schon in eine Lücke, wenn wir sagen, dass es nicht nur um Lohnfragen geht, sondern um die Einstellung der Gesellschaft zu Krankheit und Gesundheits­versorgung. Es gibt ab und zu einen Fernsehbericht, wenn mal wieder ein Rentner wegen schlechter Pflege mit einem Dekubitus auf dem Seziertisch liegt, aber der permanente Wahnsinn auf den Stationen wird nicht thematisiert. In der Altenpflege sind diese Zustände – genau wie die Privatisierung – sogar noch weiter fort­geschritten. Viele wissen zwar, wie es da aussieht – die Oma im Pflegeheim, der man einfach ein Essen vorsetzt, obwohl sie beide Hände verbunden hat, weil die Pfleger keine Zeit haben. Aber eine gesellschaftliche Diskussion darüber findet nicht statt. Wir hoffen, dass der Streik eine Möglichkeit bietet, das zu ändern.

Wie führt Verdi den Streik?

So, wie die Gewerkaschaft auch Verhandlungen führt: Wir Funktionäre wissen, wie es läuft, und eventuell brauchen wir Unterstützung. Wenn Verdi-Funktionäre zu unserer Forderung nach täglichen Streikversammlungen sagen, die gebe es doch bereits, dann ist das purer Unsinn. Die Streikleitung beschließt: Heute streikt diese, morgen jene Station. Dann wird eine kleine Re­de gehalten, und es gibt eine Grußadresse vom Gewerkschaftsrat. Aber es gibt keinerlei Versuche, eine gemeinsame Diskussion zu führen. So wird der Streik vermutlich auch enden: Die Tarifkommission handelt einen Abschluss aus, der dann zur Urabstimmung gestellt wird – und wieder gibt es keine Diskussion unter den Beschäftigten.

Setzen Sie Hoffnung in eine Veränderung der Gewerkschaft, oder bleibt nur noch die Möglichkeit, autonome Basisgruppen zu bilden, die im Gegensatz zur Gewerkschaftslogik auf die Selbsttätigkeit der Arbeiter setzen?

Radikalere Kräfte sind zurzeit so schwach, dass sie auf Verdi angewiesen sind, um überhaupt Arbeitskämpfe zu führen. Aber das macht nur Sinn, wenn diese Kämpfe ein Anstoß sind, die Diskussion über die Gesundheitspolitik auszu­weiten und Menschen zu mobilisieren. Momen­tan ist jenseits von Verdi nichts in Sicht.

interview: felix baum