Kulturkampf? Aber richtig!

Warum es für den Kulturkampf bessere historische Vorlagen gibt und was die Muslime auf den Papst antworten könnten. von deniz yücel

Die These, dass Benedikt XVI. einen Dialog mit den Muslimen im Sinn hatte, als er den byzantinischen Kaiser Manuel II. Palaeologos mit den Worten zitierte: »Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten«, vermag nicht unbedingt zu überzeugen. Dass der Papst ein neues Kapitel des christlich-muslimischen Kulturkampfs eröffnen wollte, mag allerdings auch nicht einleuchten. Denn hierfür wären andere Kronzeugen weitaus besser geeignet als jener byzantinische Loser.

Manuel II. oder die Gutmütigkeit der Schwachen

Und Manuel II. Palaeologos war ein Loser. Als er im Jahre 1391, unmittelbar nach seiner Thronbesteigung, diesen Disput mit einem schiitischen Geistlichen namens Ibn Hazn führte, war von dem einst mächtigen byzan­tinischen Reich nicht mehr übrig geblieben als die Städte Konstantinopel und Thessalo­niki, der Peloponnes sowie einige versprengte Besitztümer in Anatolien. Seine Jugend hatte er als Geisel am osmanischen Hof verbracht, und er musste sich währenddessen der demütigenden Prozedur unterziehen, sich an der Er­oberung von Philadelphia, einer der letzten byzantinischen Festungen im westlichen Kleinasien, zu beteiligen.

Gewiss war er ein gelehrsamer Mensch mit humanistischen Ansichten und ist nicht mit einem Analphabeten wie Johann I. von England zu vergleichen, der die Magna Charta nur mit seinem Siegel signieren konnte. Doch Igno­ranz, Maßlosigkeit und Angriffswut hätte sich Manuel II. auch nicht erlauben können. Nicht zufällig waren es in der Geschichte oft die Bedrängten, die an Friedfertigkeit und Toleranz gemahnten. Dieser Umstand gilt, wie auch Benedikt XI. bemerkte, nicht zuletzt für den Propheten Mohammed. Die meisten seiner ver­söhnlichen Aussagen wie »In der Religion gibt es keinen Zwang« stammen aus seiner frühen Phase, als er Rücksicht auf starke Geg­ner nehmen musste. Je mächtiger er wurde, umso mehr sprach er Tacheles (»Kämpft gegen diejenigen, die nicht an Allah und den jüngsten Tag glauben!«).

Insofern befand sich Manuel II. in einer ähnlichen Situation wie der frühe Mohammed, nur dass sein Imperium nicht in der Wiege, sondern auf dem Sterbebett lag. Im Frühjahr 1402 muss­te er eine erfolglose Betteltour durch die westeuropäischen Königshöfe abbrechen, weil die Osmanen unter Sultan Bayezit I. auf Konstantinopel mar­schierten, und wären nicht kurz darauf die Mongolen unter Timur dem Lahmen in Anatolien eingefallen, Manuel II. hätte sicher nicht seinem Sohn die Ehre überlassen müssen, als letzter oströmischer Kaiser von der Bühne der Geschichte abzutreten.

Für einen zünftigen Kulturkampf geben andere byzantinische Kaiser schon mehr Stoff her. Zum Beispiel Basileios II., der einen 25 Jahre währenden Krieg gegen die Bulgaren führ­te. 1014, nach der Schlacht von Kleidion, nahm er 15 000 bulgarische Soldaten gefangen und ließ sie blenden. Nur jedem hundertsten Gefangenen ließ er ein Auge, so dass jeder Einäu­gige 99 Blinde nach Hause führen konnte. Bei diesem Anblick soll Zar Samuil seinen Verstand verloren haben. Basileios annektierte dessen Reich und erhielt den Ehrentitel Bulgaroktónos, »Bulgarentöter«. Doch trotz solcher Ausnahmen ist die oströmische Ge­schichte, wie der Historiker Edward Gibbon bemerkt, insgesamt »eine langwei­lige und eintönige Geschichte der Schwäche und des Zerfalls«.

Urban II. oder der Wille Gottes

Wieviel ergiebiger sind da die Annalen der katholischen Kirche, der abendländischen Herrscher und Denker! Nur einige besonders herausragende seien hier erwähnt. Gre­gor VII. etwa, ein Papst, dessen Devise lautete: »Verflucht, wer sein Schwert reinhält vom Blut!« Er war es, der im so genannten Investiturstreit den deutschen König Hein­rich IV. mit einem Kirchenbann belegte und diesen später, im Oktober 1076, vor der Burg von Canossa drei Tage lang im Büßerhemd auf dem Erdboden ausharren ließ. In seinen Leitsätzen, dem »Dictatus Papae«, ließ Gregor VII. alle Welt wissen, »dass die römische Kirche vom Herrn allein gegründet worden ist; dass die römische Kirche niemals in Irrtum verfallen ist und (… ) niemals irren wird; dass alle Fürsten des Papstes Füße küssen«.

Schon bald nach seinem Tod fand sich ein würdiger Nachfolger: Urban II. Auf der Synode von Clermont im Jahr 1095 rief er dazu auf, das Heilige Land von den Ungläubigen zu befreien. Von seiner Rede, die er vor einer großen Menge unter dem freien Himmel hielt, sind verschiedene Versionen überliefert, die sich aber im Kern nicht voneinander unterscheiden. In einer heißt es: »Ihr müsst Euch sputen, um Euren im Osten lebenden Brüdern, die Eure Unterstützung brauchen, um die sie oft dringend nachsuchten, Hilfe zu bringen. Denn die Türken, ein persi­sches Volk, haben sie angegriffen (…). Deshalb ermahne ich, nein, nicht ich, ermahnt Gott Euch als inständige Herolde Christi mit aufrechter Bitte, Män­ner jeglichen Standes (…), diese wertlose Rasse in unseren Ländern auszurotten und den christlichen Bewohnern rechtzeitig zu helfen. (…) O welch ei­ne Schande, wenn eine Rasse, die so verächtlich, so verkommen und von Dämonen geknechtet ist, auf solche Art ein Volk überwinden sollte, welches mit dem Glauben an den allmächtigen Gott ausgestattet ist!« Einer anderen Überlieferung zufolge tauchte bereits in dieser Rede der Leitspruch aller Kreuzritter auf: »Deus vult!« – »Gott will es!«

Am 15. Juli 1099, drei Jahre nach ihrem Aufbruch, eroberten die von französischen, normannischen und flämischen Edelmännern geführten Kreuzfahrer Jerusalem. Was dort passierte, berichtet der anonyme Verfasser der Chronik »Gesta Francorum« wie folgt: »Zur selben Stunde, in der unser Herr Jesus Christ es zuließ, dass er für uns den Kreuzestod erlitt, flohen die Verteidiger von den Mauern durch die Stadt, und die Unsrigen folgten ihnen und trieben sie vor sich her, sie tötend und niedermetzelnd, bis zum Tempel Salomos, wo es ein solches Blutbad gab, dass die Uns­rigen bis zu den Knöcheln im Blut wateten. (… ) Nach­dem die Unsrigen die Heiden endlich zu Boden geschlagen hatten, durcheilten die Kreuzfahrer die ganze Stadt und rafften Gold und Silber. Dann, glücklich und vor Freude weinend, gingen die Unsrigen hin, um das Grab Unseres Erlösers zu verehren, und entledigten sich Ihm gegenüber ihrer Dan­kes­schuld.«

Ein anderer verdienter Papst war Alexan­­der VI., der im Jahr 1494 mit dem Vertrag von Tordesillas die »Neue Welt« in zwei Hälf­ten teilte, die er dem spanischen bzw. dem portugiesischen König schenkte. Auf dieser Grundlage ließ Ferdinand II. von Aragon das Dokument »Requerimiento« (»Aufforderung«) anfertigen, das seine Ka­pitäne vortragen sollten, wenn sie in den neuen Ländern auf Einheimische stie­ßen. Demnach sollte jeder Befehlshaber den Ein­geborenen eröffnen, dass der Papst als Stell­vertreter Gottes das betreffende Land dem König geschenkt habe, und sie dazu auffordern, den Papst, die Kirche und den König als neue Herren anzuerkennen. »Wenn Ihr es nicht tut oder es in boshafter Weise aufschiebt, so tue ich Euch kund, dass ich mit der Hilfe Got­tes mit Gewalt eindringen, Euch bekriegen (… ) und Euch unter das Joch und den Gehorsam der Kirche und ihrer Hoheiten unterwerfen werde. Und Eure Personen und Eure Frauen und Kinder werde ich gefangen nehmen und zu Sklaven machen (… ) und Euch Eure Güter nehmen und Euch allen Schaden und Böses antun«.

Doch fündig wird der Suchende nicht nur bei den Päpsten, die die Kreuzfahrer und Konquistadoren ermutigten, nicht nur bei Innozenz IV., der im Jahr 1252 die Folter als Mittel der Wahrheitsfindung gut­hieß, bei Innozenz VIII., der 1452 in der »Hexenbulle« die Verfolgung der Hexerei für rechtmäßig erklärte, oder bei Innozenz IX., der die Allianz schuf, die unter der Führung des polnischen Königs Johann III. Sobieski 1683 vor den Toren von Wien die Türken ein für allemal zurückschlug; nicht nur bei Kirchenlehrern wie Thomas von Aquin, der gute Gründe für die Inquisition anzuführen wusste, oder dem Heiligen Augustinus von Hippo.

Dieser kanonisierte die Ansicht, dass jeder Sünder auf alle Ewigkeit den Qualen der Höllen ausgesetzt würde, überdies war er, gemeinsam mit dem Kirchenlehrer Johannes Chrysostomos, der erste Theo­loge, der sein Augenmerk auf einen beson­deren Feind richtete (zwei Gelehrte, die Martin Luther genau studierte, als er rund 1 000 Jahre nach ihnen seine Schrift »Von den Juden und ihren Lügen« verfasste). Und nicht zuletzt kam Augustinus das Ver­dienst zu, den heiligen Krieg zu erfinden: »Krieg zu führen und durch Unterwerfung der Völker das Reich zu erweitern, erscheint den Bösen als Glück, den Guten als Zwang. Aber weil es schlimmer wäre, wenn die Ungerechten über die Gerechten herrschten, so nennt man nicht unpassend auch jenes ein Glück.« Schließlich gel­te: »Die Kirche verfolgt aus Liebe, die Gott­losen verfolgen aus Grausamkeit.«

Auch in der Neuzeit finden sich kämpfe­rische Naturen. Papst Pius VI. zum Beispiel, der im Jahre 1791 die Erklärung der Menschen­rechte als »gottlos« verurteilte und die Herrscher Europas dazu aufrief, gegen die französischen Revolutionäre vorzugehen. Oder Pius IX., der auf dem Ersten Vatikanischen Konzil im Juli 1870 das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes verkündete – zu einer Zeit, als sich andere Leute daran machten, die Gesetze der Nationalökonomie, der Physik und der Biologie zu erforschen oder danach strebten, ver­nunftgeleitete Gesellschaftsordnungen zu errichten.

Al-Ghazali oder die Ahnung vom Paradies

Wenn Benedikt XVI. einen Kampf der Kulturen hätte anzetteln wollen, hätte er sich also auf solche Stichwortgeber besinnen können. Dass er stattdessen jenen byzantinischen Versager heranzog, ließe sich als Indiz dafür werten, dass das Abendland im Begriff ist, vor der islamischen Welt zu kapitulieren – wenn, ja wenn diese anders zu reagieren wüsste denn als notorisch beleidigte Leber­wurst. Dabei stünden den Muslimen genügend Ausführungen osmanischer Herrscher, abbasidischer Dichter oder persischer Theologen zur Verfügung, die ihnen zur Selbstsicherheit und Hochmut gereichen könnten. Und zwar nicht nur solche Quellen, die in Momenten des Triumphes verfasst wurden, sondern auch welche, die aus bitteren Stunden stammen.

Zum Beispiel vom Oktober 1591, als die Osmanen in der Seeschlacht von Lepanto ihre erste nennenswerte Niederlage gegen die Christen erfuhren. Über den Ausgang der Schlacht schrieb Admiral Ülüc Ali Pascha an seinen Sultan Selim II. einen aus nur zwei Sätzen bestehenden Bericht: »Die Flotte des Imperiums traf auf die Flotte der armseligen Ungläubigen, und die Gunst Allahs neigte sich der anderen Seite zu.« Nur selten dürfte ein Kriegsbericht in solch stilsicherer und poetischer Form Frömmigkeit, Selbstherrlichkeit und Sportsgeist in sich vereint haben.

Stil bewiesen bisweilen auch andere osmanische Herrscher, allen voran Süleyman I. der Prächtige. Als er im April 1529 mit seinen 120 000 Soldaten in Richtung Wien aufbrechen wollte, riet ihm einer seiner Kommandeure mit dem Hinweis auf die ungünstigen Witterungsbedingungen dazu, das Unter­fangen zu verschieben. Der Sultan lehnte ab: »Es ist unter meiner Würde, dem Wetter zu erlauben, über meine Pläne zu bestimmen!« Dass die Belagerung scheiterte, focht ihn nicht an, er starb in der Zuversicht, dass Wien eines Tages den Osmanen gehören und der Stephansdom als Moschee dienen werde.

Jenseits davon gibt es eine weitere Möglichkeit, wie die Muslime auf die aus dem Munde Benedikts XVI. vorgetragene Kritik von Manuel II. antworten könnten. Sie könnten Zeugnis darüber ablegen, dass Mohammed etwas gebracht hat, das, zumindest im Vergleich zu den anderen abraha­mi­tischen Religion, tatsächlich neu, aber weder schlecht noch inhuman war: dass er nämlich der sexuellen Lust zu ihrem Recht verholfen und sie gar zu einem Akt der Gottesverehrung erhoben hat.

Schon der Koran spricht von der Sexualität wie von einer Nahrung, die der Mensch nicht als verbo­ten betrachten solle. Und unter den vom Propheten überlieferten Taten und Worten findet sich folgende Begebenheit: Einmal beschwerten sich seine Anhänger darüber, dass sie als arme Men­schen nicht dazu in der Lage seien, der Almosen­pflicht nachzukommen, was sie gegenüber ihren reichen Glaubensbrüdern benachteilige. Mohammed antwortete: »Jede Lobpreisung Gottes ist ein Almosen! (… ) Jede Wohltat ist ein Almosen! Und mit jedem Akt der Fleisches­lust gebt Ihr einander Almosen!« Auf Nachfrage erläuterte er, dass diejenigen, die ihre Bedürfnisse auf unerlaubte Weise befriedigten, bestraft, diejenigen aber, die dies in der erlaubten Form täten, belohnt würden.

In den Jahrhunderten nach dem Tod Mo­ham­meds scheuten selbst strenggläubige Theo­lo­gen nicht davor zurück, die Sexualität zu verherrlichen, und eine Reihe namhafter und gottesfürchtiger Männer befasste sich gar mit ihren praktischen Aspekten. So ermahnte der tunesische Scheich Nefzaui, der im 13. Jahrhundert am Hofe der Hafsiden lebte, die Gläubigen dazu, nicht blind drauflos zu rammeln, und gab genaue Anweisungen für das Vorspiel. (»Die Frau gleicht einer Frucht, die ihre Lieblichkeit erst preisgibt, wenn man sie mit der Hand reibt«.)

Besonders hervor tat sich in diesem Zusammenhang einer der bedeutendsten islamischen Theologen überhaupt, der Perser Hamid al-Ghazali, der Ende der 11. Jahrhunderts in Bag­dad lehrte. Er erkannte in der sexuellen Lust nicht weniger als einen Beweis für die Existenz Gottes: »Freilich soll der Geschlechtstrieb nicht lediglich der Kindererzeugung dienen, sondern ist auch in anderen Hinsicht eine weise Einrich­tung: Die mit seiner Befriedigung verbundene Lust, mit der sich, wenn sie von Dauer wäre, keine andere vergleichen ließe, soll nämlich auf die im Paradies verheißenen Wonnen hindeuten. Denn es wäre nutzlos, einem eine Wonne in Aussicht zu stellen, die er niemals empfunden hat. (… ) Die irdischen Vergnügungen sind daher auch insofern von Bedeutung, als sie das Verlangen nach dem dauernden Genuss derselben im Paradies wecken und so einen Ansporn für den Dienst Gottes bilden.«

Über welche Autorität aber kann für jemanden, der derlei Erkenntnisse besitzt, eine Person verfügen, die sich und seinesgleichen die obskure Pflicht zur sexuellen Enthaltsamkeit auferlegt? Was kann nach al-Ghazali ein katho­lischer Priester schon vom Paradies ahnen? Die Muslime bräuchten nur ihre alten Lehrmeister – nicht die einfältigen wahhabitischen aus den vergangenen beiden Jahrhunderten – zu studieren, um für Benedikt XVI. keinen Groll, sondern Mitleid aufzubringen. So könnten sie, anstatt sich mit ihrem Krakeel zum Schrecken und Spott des 21. Jahrhunderts zu machen, den Papst einen armseligen Ungläubigen sein lassen und sich ungetrübt und voller Wonne dem Dienst an Allah hingeben.

Nicht, dass es hernach für den Islamkritiker nichts mehr zu tun gäbe. Aber er müsste sich schon mehr anstrengen und bekäme es mit Kontrahenten auf Augenhöhe zu tun anstatt mit von Dämonen geknechteten Jammerlappen.