Sterben macht frei

Auf dem Deutschen Juristentag wurde über Sterbehilfe diskutiert. Doch sie wird in Deutschland bereits praktiziert. von tjark kunstreich

Ingeborg Klein hatte keine Chance. Nachdem sie vier Jahre im so genannten Wachkoma verbracht hatte, wurde die künstliche Ernährung der 58jährigen Frau Ende Juni 2006 eingestellt. Sie starb wenige Tage später. Zuvor hatte ein Vormundschaftsgericht auf Betreiben ihres Sohnes festgestellt, dass Frau Klein, die 2002 eine Gehirnblutung erlitten hatte, keinesfalls lebensverlängern­de Maßnahmen in ihrem Zustand gewünscht hätte. Die Stuttgarter Sozialbürgermeisterin Gabriele Müller-Trimbusch (FDP) erteilte daraufhin die Erlaubnis zur Einstellung der Ernährung. Weil Frau Klein selbständig atmen konnte, war Verhungernlassen die einzige Möglichkeit, sie ohne noch aktivere Einwirkung von außen sterben zu lassen. Diese Form der Tötung ist in Deutschland legal, obwohl es sich bei Frau Klein nicht um eine Sterbende gehandelt hat.

Frappierend an diesem Fall ist, dass er nie an die Öffentlichkeit gelangt wäre, wenn nicht Christoph Student, der Leiter des Stuttgarter Hospizes, in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung vom 12. September das Vorgehen der Sozialbürgermeisterin angegriffen und ihr die »Tötung einer behinderten Frau« vorgeworfen hätte. Anders als in den USA, wo der Rechtsstreit und die öffentliche Debatte um die Tötung der Wachkoma-Patientin Terri Schiavo hohe Wellen schlug, wird in Deutschland still und leise getötet. Die öffentliche Diskussion ist hierzulande unerwünscht, wie sich bereits im vergangenen Jahr anlässlich der Tötung Schiavos zeigte: So führte die Journalistin Ulrike Baureithel damals Klage darüber, dass es die amerikanische Gesellschaft »wieder einmal zugelassen hat, die sensiblen Fragen von Leben und Tod in einen politischen Weltanschauungsstreit einzuspannen«. (Freitag vom 1. April 2005) Herr Student hat unterdessen von seinem städtischen Arbeitgeber einen Maulkorb erhalten und darf sich nicht mehr zu der Angelegenheit äußern.

Gilt für sterbenskranke Menschen, die bei Bewusstsein sind, dass sie sich freiwillig für den eigenen Tod entscheiden sollen, wird bei Patienten, denen Bewusstsein abgesprochen wird, das genaue Gegenteil praktiziert. Der Gedanke einer freien Entscheidung, die Grundlage ist für jedes bürgerliche Recht – nur wer sich frei zu einer Tat entscheidet, kann auch für sie zur Verantwortung gezogen werden –, wird verworfen, wenn das Resultat der Entscheidung schon vorgegeben ist. So wird vorausgesetzt, dass eine Wachkoma-Patientin ihren Zustand als würdelos und nicht lebenswert empfinden muss, obwohl sie doch genau das, nach Maßgabe der Entscheidung anderer über ihren Tod, gar nicht kann. Und ein todkran­ker Patient, also einer, dem die Medizin nichts mehr zu bieten hat oder nichts mehr bieten will, soll den Tod annehmen und würdevoll abgehen.

Die Wachkoma-Patientin mit ungebrochenem Lebenswillen oder der todkranke Patient, der bis zuletzt die Hoffnung auf Heilung nicht aufgeben möchte, sind undenkbare Figuren geworden. So auch beim 66. Deutschen Juristentag, der vergangene Woche in Stuttgart stattfand und neue gesetzliche Regelungen forderte. So sollen Patientenverfügungen für rechtlich verbindlich erklärt werden. Schon hier wird unterstellt, eine solche Verfügung könne keinen ande­ren Inhalt haben als den formulierten Wunsch nach Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen. Mit der rechtlichen Verbindlichkeit soll der Gefahr vorgebeugt werden, dass sich unter dem Eindruck einer schweren Erkrankung die Maßstäbe, nach denen ein Mensch sich entscheidet, verändern könnten.

Vollmundig beteuerte der Juristentag, es solle keine Tötung auf Verlangen wie in den Niederlanden geben und die Förderung des Suizids solle weiter unter Strafe stehen. So weit braucht man schließlich gar nicht zu gehen, wenn man stattdessen die Legalisierung des assistierten Suizids, die Außerstrafestellung der unterlassenen Hilfeleistung bei Suizid sowie den Behandlungsabbruch und die Unterlassung lebenserhaltender Maßnahmen schon vor dem Sterbeprozess fordert. Ernst Brysch von der Deutschen Hospizstiftung war einer der wenigen, die darauf aufmerksam machten, dass damit unterstellt werde, dass in Kranken­häusern und Pflegeheimen nur noch »mumifizier­te« Patienten verwahrt würden, die von Ärzten aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung erbarmungslos übertherapiert würden.

Tatsächlich hatte der Bonner Jurist Torsten Verrel in seinem Referat die Forderung nach Gesetzesänderungen damit begründet, dass »die Furcht vor strafrechtlicher Verfolgung (…) eine extensive Rechtfertigungsmedizin und unzureichende Leidensminderung« begünstige. Der ehemalige Vorsitzende des Bundesgerichtshofs, Klaus Kutzer, beschwerte sich in seinem Vortrag, dass die Patientenverfügungen nicht für Wachkoma-Fälle oder demente Patienten gelten. Das sei eine nicht akzeptable Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts. In diesen Formulierungen kündigt sich eine neue juristische Sprachregelung an. Das Selbstbestimmungs­recht ist demnach nicht mehr ein Ausdruck der »Unabhängigkeit des Individuums« im Sinne seiner von ihm selbst für frei gehaltenen Entscheidung, sondern der »Verantwortung des Subjekts«, für sein Leben und seinen Tod zu sorgen, sollen es nicht andere für ihn tun.

Im einfühlsamen Firmenporträt zweier Unternehmen der Schweizer Sterbeindustrie in der Jungle World (Nr. 34/06) wird diesem neuen Begriff der Selbstbestimmung Rechnung getragen. Ron Steinke spricht darin die Sprache, derer sich die Juristen befleißigen, um die skandalösen Umstände zu objektivieren, die den Freitod zu einer gesellschaftlichen Angelegenheit machen: »Bei Exit legt man sehr viel Wert darauf, die Ernstlichkeit und Dauerhaftigkeit eines Sterbewunsches sorgfältig zu ermitteln. Feste zeitliche Vorgaben für den Begriff der Dauerhaftigkeit gibt es allerdings nicht«, heißt es in der den Artikel kennzeichnenden unklaren Mischung aus Zitat, indirekter Rede und so genannten Fakten, die den Internetseiten der Vereine Dignitas und Exit entnommen sind. Die banale Erkenntnis, dass der Tod irreversibel und unausweichlich ist, wird zum »Sterbe­wunsch« verdreht.

Dass Reklame für die Einführung der Sterbepflicht im Falle von schwerer Krankheit und Behinderung vor der Linken nicht halt macht, ist nicht neu. Im Falle von Terri Schiavo waren es, bis auf wenige prominente Ausnahmen, Liberale und Linke die deren »öffentliche Hinrichtung« (Village Voice, 29. März 2005) forderten. Der einfachste Weg, menschliches Leid aus der Welt zu schaffen, besteht darin, leidende Menschen aus der Welt zu schaffen. Die Illusion eines leidfreien Lebens und Sterbens ist jedoch politisch gewendet eine faschistische Phantasie. Es handelt sich um eine Absage an die Mühe, das unvermeidbare Leid zu lindern und die Möglichkeiten zur Linderung beständig zu erweitern, mit anderen Worten, um eine Absage an den Fortschritt. Diese Ab­sage ist das einzig Neue an der linken Reklame für die Sterbeindustrie, die sich einst als Agentin des Fortschritts darstellte und ihre totalitäre Sehn­sucht nach der perfekten Gesellschaft leidfreier Zombies nicht zu verleugnen brauchte.