Der Run auf die Wildnis

In Island haben bekanntlich die Elfen immer ein Wörtchen mitzureden, und überhaupt ist alles irgendwie ein ­bisschen anders. Manche fragen sich: Kann man dort überhaupt einfach so Urlaub machen? Offenbar kann man. Der Tourismus boomt. von jan süselbeck (text) und marion malinowski (fotos)

Im beginnenden Winter des Jahres 1774 rettete sich der entflohene Häftling Fjalla Eyvindur an den Rand des größten isländischen Lavafelds, der Odaðahraun. In der Nähe eines der höchsten und schönsten Berge der Insel, dem Herdubreið, richtete er sich ein notdürftiges Versteck ein. An einer Lavawand schichtete er drei Steinwände auf; als Dach dienten ihm die Rückenknochen und das Fell seines hurtig geschlach­teten Fluchtpferdes.

Kaum einer schaffte es überhaupt bis zum 18. Jahrhundert, in Islands zentralem Hochland länger als ein paar Tage zu überleben. Der Einzige, von dem man es weiß, war Eyvindur. Der vogelfreie Mann brachte es sogar auf die seinerzeit zur Begnadigung verlangten, unwahrschein­lichen 20 Durchhaltejahre. Danach erlangte er als erster Hochland-»Reiseführer« Islands Berühmtheit, weil er sich dort auskannte wie kein Zweiter.

Doch zu welchem Preis: Da er kein Feuer machen konnte, weil er nicht entdeckt werden wollte, und es außerdem auch nichts Brennbares auf den kahlen, unbewachsenen Lavafelsen gab, diente ihm im Winter 1774/75 ein kleines Rinnsal als Durstlöscher und wohl ein bisschen auch als Heizung. Das allein ist während der Schneestürme in der Dunkelheit des harten isländischen Hochlandwinters allerdings nicht viel, um sich vor dem Erfrieren zu schützen. Alles, was Eyvindur in jenen Monaten zu essen bekam, waren bittere Pflanzenwurzeln und das rohe Fleisch des zerlegten Pferds.

Irgendwie möchte man sich diese Strapazen gar nicht weiter vorstellen. Und doch gibt es heutzutage immer mehr Menschen, die sich freiwillig in solch unwirtliche Gegenden begeben, um für Tage und Wochen durch die Middle of Nowhere zu wandern. Mit mitgeschleppten Tütensuppen und unterwegs geschöpftem Gletscherwasser als Verpflegung wollen sie »die isländische Natur« erleben. Ja, der Island-Tourismus boomt sogar, und wer sich im Sommer zum Flughafen Keflavík in der Nähe der Hauptstadt Reykjavík begibt, könnte meinen, dass hier fast so viele Leute aus aller Welt Schlange stehen wie in Palma de Mallorca.

Dabei hatte es in der Geschichte sehr lange gedauert, bis Island überhaupt entdeckt wurde. Erste Besucher, die vor der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts hier ankamen, machten sich verblüfft zumeist nur einige Notizen und sahen zu, dass sie schleunigst wieder verschwanden. Einer von ihnen war vermutlich der griechische Seefahrer Pytheas von Massilia, der 325 v.u.Z. an den schwefelriechenden Gestaden von »Ultima Thule«, wie er die mit knapp 20 Millionen Jahren erdgeschichtlich vergleichsweise junge Vulkaninsel nannte, angekommen sein wollte. Vielleicht meinte er aber auch Norwegen – so genau weiß das heute keiner mehr.

Sicher ist, dass noch vor den Wikingern irische Mönche bei Reykjavík (der »Rauchbucht«) landeten. Einer von ihnen war Dicuilus, der 825 in seinem Buch »Liber De Mensura Orbis Terrae« verwundert schrieb, in »Thule« sei es im Sommer so lange hell, »dass man noch um Mitternacht Läuse aus seinen Gewändern klauben konnte«.

Alle Wetter

Ich hatte mir vor 20 Jahren geschworen, in Ferienzeiten aus dem regnerischen Deutschland ausschließlich den Weg südwärts anzutreten. Ich habe diesen Schwur in diesem Sommer gebrochen und muss zugeben, dass einen Dicuilus’ Beobachtung auch heute noch in Erstaunen versetzen kann – auch wenn man mittlerweile eher andere Dinge klaubt als Läuse.

Meine islanderfahrene Begleiterin und ich sind nicht etwa auf der Suche nach Elfen, Trollen oder anderem boomenden Esoterik-Tourismus-Bullshit. Sie hat mich einfach überredet, einmal zehn Tage durch dieses merkwürdige Land zu wandern. Und so kommen wir gegen Mitternacht mit dem üblichen Nachtflug aus Frankfurt/Main an. Auf Kälte, wüste Regen-, ja Schneestürme gefasst, müssen wir feststellen, dass hier entgegen der Regel die nächtliche Sonne scheint und sich kein Lüftchen regt. Sind das etwa schon die Folgen der Erderwärmung? Uns soll es recht sein: Schwer bepackt mit warmen Klamotten in großen Trekkingrucksäcken voller Trockennudelgerichte, Müsli und Schoko-Keksrollen, nehmen wir den Bus in die Stadt.

Auch am nächsten Morgen: restlos blauer Himmel, wenn auch nur 15 Grad. Nichts also von Blizzards, die hier durch­aus auch im Sommer vorkommen können, wenn man Pech hat. Das wissen ja selbst diejenigen unter 30, die in Deutschland noch durch die Kinder-TV-Serie »Nonni und Manni« (ZDF, 1988) sozialisiert wurden und aus dem Plot ihr erschöp­fen­des Wissen über Island bezogen: »In südlichen Ländern kann man sich gar keine Vorstellung davon machen, was das bedeutet«, heißt es im Buch zur Serie, das Georg Telemann nach Erzählungen des isländischen Schriftstellers Jón Svensson verfasste. »Der Schnee fällt so dicht, dass man keine Flocken mehr unterscheidet; man sieht nur noch eine einzige zusammenfallende Masse.«

Viking-Bier in Reykjavík

Der »Isländer an sich«, über den Dieth­mar Blefken in seiner in Hieronymus Megisers Buch »Septentrio Novantiquus oder Die Newe NortWelt« (1613) überlieferten Dokumentation immerhin behauptet, er könne »eine Hamburgische Tonnen voll Bier so leichtlich an den Mund« halten und daraus trinken, »als wann er nur eine Kannen hette in der Hand gehabt«, freut sich heute offensichtlich über das gute Wetter. Das können wir auf unserem ersten Stadtrundgang beobachten: Trotz der doch eher frischen Temperaturen sieht man hier junge Männer mit nacktem Oberkörper so sonnenselig im Gras liegen, als befänden sie sich unweit des »Ballermann 6«.

Und siehe da, sogar eine kleine Jazzcombo probt draußen und feiert den isländischen Sommer! Auf den Gehsteigen herrscht permanenter Kinderwagenstau – offenbar zeugen die etwa 300 000 Isländer, von denen annähernd zwei Drittel im Großraum Reykjavíks leben, fleißig Nachwuchs. Auf den Straßen fahren altmodische amerikanische Straßenkreuzer und riesenhafte Geländewagen mit breiten Reifen, und vor den Cafés sitzen smarte Managertypen in schwarzen Anzügen, um genüsslich an ihrem Glas Viking-Bier zu nippen.

Das Gebräu aus der zweitgrößten isländischen Stadt Akuyeri hat allerdings nur tief enttäuschende 2,2 Prozent Alkohol. Überhaupt sind für uns derartige Genüsse wegen der hohen Preise in der hiesigen Gastronomie und unserer schmalen Reisekasse tabu. Vieles kostet hier, verglichen mit Deutschland, das Zwei- bis Dreifache, weswegen wir uns, was unseren aufkommenden Heißhunger angeht, an das Angebot der isländischen Aldi-Version halten, die den hübschen Namen »Bonus« trägt.

Vom Kauf verkohlter Schafsköpfe unter Frischhaltefolie und getrockneten Fischen in Plastiktüten sehen wir jedoch lieber ab. Stattdessen gibt es bloß Kekse, billigen Fruchtquark und getrocknete Apfelringe: für die nächsten zwei Wochen die einzige seltene Abwechslung zu dem kargen Proviant, den wir uns mitgebracht haben.

Unterwegs mit Trapper Geierschnabel

Dazu gehört das von mir probeweise in Deutschland erstandene getrocknete Rind­fleisch. Als wir anderntags am stattlichen Wasserfall Skógafoss unsere Wanderroute in Richtung der heißen Quellen von Landmannalaugar beginnen, fange ich schon nach einer Stunde an, gierig auf dem gepfefferten Zeug zu kauen.

Es geht permanent steil bergauf, vorbei an einer Kette spektakulär schöner Wasserfälle in grün bewachsenen Canyonschluchten. Mit uns losgegangen ist ein fitter, hünenhafter Österreicher um die 60, der uns in den nächsten Tagen meist einen Kilometer voraus wandern wird. Wir taufen ihn »Trapper Geierschnabel«. Er verfügt, anders als wir mit unseren mangelhaften aus dem Internet ausgedruckten Karten, über ein GPS-System, so dass wir uns im Zweifelsfall einfach nach ihm umsehen, um ihm zu folgen: »Müssen wir jetzt hier über den reißenden Fluss oder erst mal weiter daran entlang?« »Och, da hinten am Horizont läuft doch schon Trapper Geierschnabel auf der anderen Seite, also ’rüber!« Darüber hinaus werden wir zu geschulten Fährtenlesern. Ist der Trapper einmal nicht in Sicht, suchen wir nach seinen Spuren im Schnee.

Unberührte Natur berühren

»Furcht fühlte ich nicht«, notiert Ina von Grumbkow, die 1908 in Island nach ihrem verschollenen Verlobten Walther von Knebel suchte und über die Expedition ein Buch schrieb. »Ich hatte mich längst daran gewöhnt, dass man in Island beständig Dinge mit Erfolg unternimmt, die man auf dem Kontinent von vornherein für unausführbar erklären würde.«

In der Tat erleben wir auch einige knifflige Situationen in den isländischen Bergen, aber irgendwie geht immer alles gut. Einmal irre ich mich im strömenden Regen im Abstiegspfad und kann mit meinem 20 Kilo schweren Rucksack von dem Sims am Abgrund kaum noch zurückklettern. Als wir unweit einer Schutzhütte über ein Schneefeld stapfen, stoßen wir auf eine Gedenktafel für einen hier erst am 27. Juni 2004 in einem Blizzard erfrorenen jungen Mann.

Solche Mahnungen geben einem zu denken. Ein andermal laufen wir über einen dünnen Grat, rechts und links 300 Meter Abgrund – das heißt, ich ziehe es vor, auf allen Vieren voranzurobben. »Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?« frage ich mich in solchen Situationen und muss dabei unwillkürlich an den treffenden Satz aus Kathrin Passigs diesjährigem Bachmannpreis-Beitrag denken: »Meine Vorfahren haben viele tausend Jahre daran gearbeitet, nicht mehr unbehaust in Kälte, Schnee und Nebel herumkriechen zu müssen – es ist mein gutes Recht, von ihren Leistungen zu profitieren.«

Hippe Outdoor-Freaks und moderne Luis-Trenker-Nachfolger, die sich immer wieder selbst übertrumpfen zu müssen glauben und sich dabei auf der Spur »reiner«, »unberührter« Natur wäh­nen, sind und bleiben die abstoßendsten Gestalten, denke ich – und muss einräumen, dass ich gerade selbst auf ihren Fährten wandele. Aber »der Naturbegriff […], wie wir ihn noch immer verstehen und wie ihn die Leute […] immer noch auf absurde Weise verstehen und anwenden und praktizie­ren, existiert ja überhaupt nicht mehr«, schreibt Thomas Bernhard in »Ungenach« (1968), »die Natur existiert gar nicht mehr.«

Wohl wahr: Selbst in so abgelegenen Gegenden wie den überwältigenden Land­schaften im Süden Islands, die zunehmend zur Rennstrecke für Wildnis-Sucher aus Europa und der ganzen Welt werden, wird klar, dass auch solche »Refugien« längst zum »Pro­dukt« geworden sind – auch ohne Pommesbuden und Souvenirläden an jeder Ecke. Denn gerade diejenigen, die sich hier auf ihrem Weg als »Extrem«- bzw. »Aktiv«-Urlauber in Opposition zum Müll- und Massentourismus wähnen, bilden die wahre Avantgarde der Natur­zerstö­rung: Schon ihr erster Fetzen Klopapier leuchtet als schockgefrorener Bote des »Alternativ«-Urlaubsgeschäfts für Jahre auf der schwarzen Lava.

Und doch nehmen auch mich die bizarren Panoramen dieser Gegend gefangen. Man wandelt durch ganze Land­striche, in denen nicht ein einziges Haus oder gar ein Dorf zu sehen ist. Gletscher gibt es hier im Überfluss, dazu veritable »Herr der Ringe«-Szenerien und Vulkanprofile, die man gemalt für Hirngespinste eines schizophrenen Hobbymalers halten würde. Moose in allen nur erdenklichen und leuchtenden Grünschattierungen bedecken weite Ebenen und Hänge; Wolken fließen wie Sturmfluten über schroffe Gebirgsrücken auf den überwältigten Hiker zu.

So haben sich greise Germanistikprofessoren ihre Edda- und Nibelungenliedswelt wahrscheinlich schon immer ausgemalt. Heiße Quellen und Solfataren-, also Schwefelfelder sprudeln und zischen hier wie in einem billigen Monster-B-Movie. Käme im gleichen Moment Godzilla um die nächste Felsecke gestiefelt, man würde ihn froh grüßen wie einen alten Bekannten und ungerührt seiner Wege gehen.

Spätestens bei unserer Ankunft an den heißen Bächen von Landmannalaugar, inmitten einer Landschaft mit steilen Geröll-, Erd- und Lavahalden in den unwahrscheinlichsten Farbkombinationen aus dem Chemiebaukasten der Natur, ahne ich, wie klein sich der Mensch in dieser launigen Versuchsanordnung tatsächlich ausnimmt. Und plötzlich stehen, nach tagelanger Wanderung in den Bergen, dicke österreichische Touristinnen in Birkenstocklatschen und »Iron-Maiden«-T-Shirts vor mir, mit Bierbüchsen in den Händen. Sensiblere Menschen sind in solchen Momenten schon wahnsinnig geworden.

Feen und Handys

Wenn man zehn Stunden am Stück gewandert ist und bei Kilometer 25 seinen x-ten Fluss durchwatet hat, freut man sich tatsächlich, wenn einmal einer dieser albernen Jeeps, die unterwegs ab und zu rücksichtslos vorbeigebrettert sind, im Wasser stecken bleibt. Als wir dies am Ende unseres harten Gangs durch die wüste Weite der Emstrur-Ebene beobachten, tut es uns einfach nur gut. Helfen können wir den Insassen leider nicht. Sie müssen hoffen, dass bald ein anderer Wagen vorbeikommt, der ihr Gefährt aus dem Fluss ziehen kann.

Tage später sitzen auch wir einmal wieder in einem Bus und fahren vom verwunschenen Mývatn (»Mückensee«) durchs Hochland zur Askja. Wir wollen jenen unzugänglichen Ort besuchen, an dem Walther von Knebel umkam und Ina von Grumbkow viele ihrer lesenswerten Aufzeichnungen machte. Unser isländischer Guide Gunnar erzählt uns währenddessen in perfektem Englisch, seine Landsleute wollten in allem immer das Größte und Stärkste für sich reklamieren. »Und ich glaube, wir sind auch ganz gut darin«, lacht er.

Immerhin gibt es in Island den größten Festlandgletscher Europas, den Vatnajökull, und die reißendsten Wasserfälle und Flüsse. »Wir haben sowieso die schönsten Frauen, die amtierende Miss World ist Isländerin«, vergisst Gunnar nicht zu erwähnen, »und gemessen an unserer niedrigen Einwohnerzahl haben wir auch die meisten Literaturnobelpreisträger« (Halldór Laxness).

Erstaunlich ist es auch, dass dieses Land bezogen auf seine Einwohnerzahl die meisten Mobiltelefone und Internetzugänge der Welt hat, wo hier doch so viele Einwohner immer noch fest an mythischen Feen-Hokuspokus glauben. 70 Prozent der isländischen Energie wird allein mit den Wasserkräften und der Erdwärme der vulkanischen Natur erzeugt – wobei bisher überhaupt nur zehn Prozent der verfügbaren natürlichen Ressourcen genutzt werden, wie wir auf einer anderen Tagesreise über den gottverlassenen Sprengisandur erfahren.

Ein weiteres beeindruckendes Beispiel für diese nützlichen Seiten der rohen isländischen Naturgewalten ist das nahe Reykjavík gelegene Thermalbad »Blue Lagoon«. Wie so viele suchen auch wir es kurz vor unserem Abflug auf, um die müden Knochen noch einmal ordentlich durchzuglühen. In bläulich-milchigem Wasser mit Temperaturen um die 40 Grad planschen fröhliche Besucher aus aller Welt – US-Manager, lächelnde Japanerinnen und staunende Spanier.

Dabei natürlich auch – und wie so oft in der Überzahl – die unvermeidlichen Deutschen. Als wir am Eingang des Bads Schlange stehen, kommen ungeduldige kahlköpfige Briten aus dem Regen herein und rufen: »Push them – they are only Germans!«