Das Dorf mit Massengrab

Im sauerländischen Barge wurde ein Massengrab aus der NS-Zeit gefunden. Die Dorfbevölkerung hat 60 Jahre geschwiegen und sieht sich jetzt unter Rechtfertigungszwang. von christian werthschulte (text und fotos)

Barge zu finden, ist nicht leicht. »In Ne­heim von der Autobahn ab, dann Rich­tung Menden, irgendwann kommt links ein Schild«, so hatte meine Schwester mir den Weg beschrieben. Keine Ahnung, woher sie den kannte. Doch das Schild an der B7 hilft mir nicht weiter, die enge Straße mit dem geflickten Asphaltbelag ist gesperrt, weil Barge eine neue Kanalisation bekommt. Bislang mussten die 200 Einwohner mit Sickergruben unter ihren Häusern leben, und seit Ende September auch damit, im ganzen Land bekannt zu sein.

Das nahe gelegene Neheim-Hüsten ist stolz auf seinen Sohn Franz Müntefering, die Nachbarstadt Menden hat durch den Rapper Dendemann ein wenig Pop-Credibility, doch das kleine Dorf Barge, eine halbe Autostunde westlich von Dortmund gelegen, wird der Welt vermutlich nur durch sein Massengrab in Erinnerung bleiben. »Allein der Suchbegriff ›Massengrab‹ führt auf hunderten Seiten in die Hönnestadt«, meldet erschrocken die Lokalzeitung Westfalenpost. 79 Leichen wurden auf dem überschaubaren Friedhof gefunden, vermutlich hat man sie in den letzten Kriegstagen dort verscharrt.

Barge besteht aus drei Straßen und zwei Kreuzungen. An einer liegen die Bauernhöfe, das »alte« Barge, an der anderen die Einfamilienhäuser der Zugezogenen. Man lebt angenehm in Barge, kein Verkehrslärm stört die Mittagsruhe, und kein Haus kommt mit weniger als zwei Garagentoren aus. Manch­mal steht ein Carport davor, und immer ist drumherum ein weiter Garten. Die ewig wehklagenden Bauern bewirtschaften ihre Felder und bewohnen die Höfe standesgemäß mit Misthaufen, Obstwiese und Familie. Vor einem Haus liegen zwei schlafende Hunde, die aufspringen, als ich näher komme.

Geweckt hat sie Rainer Mertes, ein ehemaliger Bundeswehrsoldat, der seit seiner Pensionierung als Geschäftsführer des Bezirksverbands Arnsberg des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VdK) tätig ist, dem Verein, der die Ausgrabungen in Barge leitet. »Versöhnung, Verständigung, Freundschaft über Grenzen hinweg« kann man auf einem Aufkleber am olivgrünen Unimog des VdK lesen. In Geschichtsschreibung übersetzt bedeutet dies, den Faschismus durch die »verheerenden« Auswirkungen des Versailler Vertrags zu verstehen, so geht es zumindest aus der Homepage des Vereins hervor.

Der 60jährige Bezirksgeschäftsführer weiß, dass die Leichenfunde in Barge nach einer Heldengeschichte verlangen. Eine Geschichte von mutigen Menschen, die sich dem Bösen entgegenstellen. Von Taten, die 60 Jahre des Schweigens aufwiegen.

In Barge ist Rainer Mertes einer ihrer Protagonisten. Im Jahr 1999 hat er auf dem Friedhof einen Glockenturm als Denkmal für die Kriegstoten der beiden Weltkriege eingeweiht. Bei dieser Veranstaltung kam ihm das Gerücht zu Ohren, dass auf einem verwilderten Teil des Friedhofs 200 Kriegstote zu finden seien. Mertes schenkte dem Gerücht Glauben und initiierte die Aufstellung einer Gedenktafel für die anonymen Toten. Gleichzeitig meldete sich eine Zeugin, die berichtete, seinerzeit im nahe gelegenen Ausweichkrankenhaus Wickede-Wimbern einen Arzt mit Spritzen gesehen zu haben und kurz darauf einen Wagen mit Toten.

Im Herbst 2003 ergab sich dann der Kontakt zu Hans-Bernd Besa von Werden, Dezernent beim Regierungspräsidenten in Arnsberg und zweiter Held der Geschichte. Er ist ein stämmiger großer Mann mit kurz geschorenen Haaren, gekleidet in einen schwarzen Anzug ohne Krawatte, und verbreitet an diesem Tag auf dem Friedhof hektische Betriebsamkeit.

Wenn er nicht das Handy am Ohr hat, verlangen der WDR oder Spiegel-TV nach Bildern, fragt die taz nach Neuigkeiten oder ein japanischer Journalist nach den Grundlagen der Geschichte. All dies schildert der Beamte gerne. Es ist ihm eine willkommene Abwechslung.

Seit den Gerüchten um die Kriegstoten hielt der Dezernent Haushaltsmittel für die Ausgrabungen zurück. Kurz vor Beginn der Ausgrabung erhielten er und Mertes einen Plan des Friedhofs, auf dem die Ausgrabungsstätte als »Kindergrab Sonderlager« beschrieben wird.

Als die Grabungen am 27. September beginnen, sind die beiden Helden selbst vom Ausmaß der Entdeckungen überrascht. Neben einer Reihe von Skeletten von Erwachsenen entdecken sie die Überreste von 25 Kindern, verscharrt in nur 80 Zentimetern Tiefe, vermutlich Opfer eines Verbrechens.

Die Herkunft der Leichen ist schnell ausgemacht: das Ausweichkrankenhaus in Wickede-Wimbern, drei Kilometer von der Fundstelle entfernt. Im Jahr 1943 wurde das Krankenhaus als Sonderlager im Rahmen der »Aktion Brandt« eingeweiht. Sein Personal bestand zu 70 Prozent aus Mitgliedern der NSDAP, der Chefarzt wurde von Dr. Karl Brandt selbst eingesetzt. Dieser war verantwortlich für das »Euthanasie«-Programm und wurde im Nürnberger Ärzteprozess zum Tode verurteilt und 1948 hingerichtet. Dezernent Besa von Werden bezeichnet das Krankenhaus daher als »vom Brandtschen Geiste beseelt«.

Doch was dies genau bedeutet, ist seit Jahren Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Kontroversen. Götz Aly hatte in einem grundlegenden Aufsatz die »Aktion Brandt« als »Anstaltsmord«, als Fortführung des »Euthanasie«-Programms beschrieben und damit den Streit der Historiker eröffnet. Bernd Walter, Historiker beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe, fragt mich aus diesem Grund auch gleich zu Beginn unseres Telefongesprächs, was ich denn unter der »Aktion Brandt« verstehe.

»Das Errichten von Ausweichkrankenhäusern«, antworte ich knapp. Meine Antwort scheint sein Wohlgefallen gefunden zu haben, er bleibt auskunftsfreudig. Das Krankenhaus in Wimbern sei Teil einer Reihe von Sonderanlagen gewesen, die dazu gedient hätten, Kapazitäten in den Innenstadtkrankenhäusern freizumachen. Deshalb seien Patienten, die schon länger in Behandlung gewesen seien, namentlich alte sowie geistig und körperlich behinderte, in die Sonderlager verlegt worden. Eine generelle Tötungsabsicht habe hierbei nicht vorgelegen, es sei jedoch regional zu Tötungen gekommen, vermutlich auch in Wimbern.

Seine Einschätzung ist nicht unumstritten, offenbart jedoch auch die Forschungslücke. Von allen im ehemaligen »Reichsgebiet« errichteten Sonderanlagen existieren nur zum Waldkrankenhaus in Köppern (Hochtaunus) detaillierte Forschungen. Die Historikerin Ute Daub sagt auf Nachfrage, dass dort täglich getötet worden sei. Zugleich habe es personelle Verflechtungen zwischen Krankenhausverwaltung und den für die »Aktion Brandt« Verantwortlichen gegeben. Auch das im »Euthanasie«-Programm eingesetzte Gift Luminal sei in Köppern verabreicht worden. Der Verwaltungschef des Sonderlagers habe es persönlich aus Berlin geholt. Daub weist darauf hin, dass es jedoch schwierig sei, diese Erkenntnisse zu generalisieren, die »miserable« Quellenlage in Berlin lasse dies nicht zu. Sicher aber sei, dass es eines besonderen Tötungsbefehls nicht bedurft habe. Das Morden in den Krankenhäusern sei so verbreitet gewesen, dass keine Anweisung von oben nötig gewesen sei. »Der organisierte Verwaltungsmord an unproduktiven und gebrechlichen Leuten muss so selbstverständlich geworden sein, dass er nach 1945 kein Thema war«, schrieb Aly vor 20 Jahren.

Dass es sich bei den Kinderleichen in Barge um »Euthanasie«-Opfer handelt, scheint auch für den zuständigen Staatsanwalt Ulrich Maaß sehr wahrscheinlich. Im Mendener Standesamt habe man Todesurkunden gefunden, die mit einem Vermerk »Krankenhaus Sonderanlage. Aktion Brandt« versehen gewesen seien. Etwa 100 dieser Akten belegten den Tod von Kindern, teilweise sei dieser erst nach dem Einmarsch der Amerikaner ins Sauerland erfolgt.

Dazu passt folgendes Indiz: Der kanadische Offizier J.E.G. LaBrosse, der nach Kriegsende für die Geschichtsabteilung der Britischen Armee arbeitete, notierte im Juli 1945, dass auch Wochen nach Kriegsende die Mitglieder der NS-Schwesternschaft, die »infamous brown sisters«, sich im Krankenhaus Wimbern mit »Heil Hitler« begrüßt hätten. Der ehemalige Chefarzt, so habe er erfahren, sei kurz nach dem Einmarsch von den Amerikanern wegen Zwangssterilisationen und mehrfachem Mord erschossen worden. Der Historiker Walter ergänzt diese Geschichte: Ein ehemaliger Verwaltungsangestellter des Krankenhauses sei kurz vor dem Einmarsch geflohen und erst in Süddeutschland gefasst worden. Inwieweit die beiden Fälle untersucht wurden, weiß er jedoch auch nicht.

Das Massengrab von Barge war den Akten zufolge zwar schon länger bekannt, doch erst jetzt melden sich die Zeugen zu Wort, berichten über nächtliche Grabungen und kolportieren, dass der ehemalige Gemeindevorsteher das Klinikum mit Weihwasser besprengen wollte.

Einer, der alle diese Geschichten kennt, ist Theo Ostermann. Der 61jährige mit dem gut gebügelten Hemd und dem akkuraten Seitenscheitel ist der ehrenamtliche Chronist der katholischen Gemeinde St. Johannes Baptist. »Denket um«, steht dort an der guss­eisernen Kirchentür geschrieben, das wird er jetzt wohl wörtlich nehmen müssen. »Das ist ein erheblicher Einschnitt in die Dorfgeschichte. Ich werde die entsprechenden Teile der Chronik ganz sicher neu gestalten«, gab er dem WDR zu Protokoll. Seine persönlichen Erinnerungen wird er dort nicht eintragen, das gehört sich nicht bei Chroniken. »Jedes Jahr zu Allerheiligen hat mir mein Vater ein rotes Lämpchen gegeben und gesagt, stell das zu Günter aufs Massengrab«, erzählt er und deutet auf die Ausgrabungsstätte. Günter war ein Deserteur, der auf dem Friedhof begraben liegt. »Jeder im Dorf kannte das. Das war das ›Massengrab‹ oder das ›Kindergrab‹, so haben wir’s auch genannt.«

Ostermann spricht mit starkem Sauerländer Akzent, sagt »Vatter« anstatt »Vater« und versucht zu verbergen, dass er lediglich acht Jahre Volksschulbildung vorweisen kann. Später wird er sich beim Team von Spiegel-TV für seine Ausdrucksweise entschuldigen und sie bitten, die Kamera abzuschalten. »Das möchte ich jetzt nicht aufgenommen haben. Da gibt es eine Geschichte, die erklärt vielleicht, warum die Menschen hier so ängstlich sind.« Darauf erzählt er seine eigene Version davon, weshalb Barge vergessen wurde, die Geschichte eines Bauern, der gegenüber einem Wanderschäfer die Nazis beleidigt hat. Diese kommen daraufhin mit mehreren Lkw in den Ort, um den Bauer zur Rechenschaft zu ziehen, erwischen jedoch den Falschen. Glücklicherweise kann der Schäfer dessen Unschuld bezeugen, die Nazis ziehen weiter, bis sie vor dem Hof des vermeintlichen »Nestbeschmutzers« stehen, doch der hat nichts zu befürchten – er ist der Schwager des örtlichen Sturmführers.

»Es gab hier fünf oder sechs hundertprozentige Nazis, alles normale Leute«, erzählt eine alte Frau aus Menden, während sie das Grab ihrer Tante harkt. Menschen wie sie kommen in diesen Tagen oft zum Friedhof und pflegen auch vernachlässigte Gräber. Doch nicht überall stößt das neue Interesse auf Zustimmung: »Man traut sich gar nicht mehr, zum Friedhof zu gehen, weil die dann denken, man wäre neugierig. Ich sach’ Ihnen mal was: Neugierde mag ich überhaupt nicht!«

Rosemarie Hennemann steht in der Einfahrt ihres Hauses und schneidet die Rosen. Es ist ein auffälliges Haus, an der zweiten Kreuzung gelegen, geräumig, verziert mit einem sanft dahinplätschernden Brunnen und reichlich Holzkitsch aus dem Allgäu. Die Mittfünfzigerin schaut mich durch eine schicke Brille an. Sie scheint die Extravaganz zu mögen. Doch ihr Weltbild ist alles andere als außergewöhnlich. »Wir kommen ja aus Schlesien und sind erst ’72 hierhin gezogen. Wenn das mal einer aufschreiben würde, was auf der Flucht alles passiert ist! Aber da hat keiner drüber gesprochen. Man soll doch jetzt die Toten ruhen lassen. Wenigstens liegen sie auf geweihtem Boden.« Auch ihr Mann Josef hat für die Grabungen wenig Verständnis: »Das sind doch alles Beschäftigungsmaßnahmen für die Beamten. Ich war jahrelang in der Wirtschaft, ich weiß, was ich von denen zu halten hab’. Was können wir denn dafür? ›Eine Mauer des Schweigens‹ hat in der Zeitung gestanden. Wie sollten wir das denn wissen? Wir wohnen doch erst seit 35 Jahren hier«, poltert er los, verabschiedet sich aber schnell, weil er noch Grünabfälle entsorgen müsse. »Da beim Grüncontainer, da sieht’s aus! Da sollten Sie mal eine Reportage drüber machen!« gibt er mir als Ratschlag mit auf den Weg, bevor er und sein Sohn sich im polierten Mittelklassewagen auf den Weg machen.

Das Gesicht wahren, zur Tagesordnung übergehen, das wünschen sich die Bürger im sauerländischen Barge. Man wolle »den Toten ein Gesicht geben«, hat der Pfarrer des Ortes den Reportern in den Block diktiert. Barge wird wohl »das Dorf mit dem Massengrab« bleiben. Trotz der neuen Kanalisation.