Die Deppen der entwickelten Welt

Der Konkurrenzkampf um die Ressourcen und der Glaube an eine »natürliche« wissenschaftliche Elite führen dazu, dass in Deutschland der bildungspolitische Ruin droht. von torsten bultmann

Nun ist es wieder einmal amtlich: Das deutsche Bildungssystem erreicht nicht einmal das durchschnittliche zivilisatorische Niveau eines durchschnittlichen neoliberalen kapitalistischen OECD-Landes. Als der diesjährige Bildungsbericht der OECD, in dem die Bildungsinvestitionen und Bildungsabschlüsse von 24 Staaten verglichen werden, im September der Presse vorgestellt wurde, war die zuständige Bundesministerin Annette Schavan (CDU) vorsichtshalber erst gar nicht erschienen. Stattdessen teilte ihr Staatssekretär Andreas Storm den verblüfften Journalisten mit, dass Deutschland sich »auf einem guten Weg« befinde. Schließlich hätten 84 Prozent der 25- bis 64jährigen mindestens einen Bildungsabschluss der Sekundarstufe II, also eine berufliche Ausbildung oder Abitur. Vermutlich wusste er selbst, dass dies ein statistischer Nullwert ist, der vom Gebäude­reiniger bis zum Professor alles umfassen kann. Aber in dem telefonbuchdicken Report findet sich natürlich für jeden politischen Zweck eine passende Zahl.

Im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen vor allem die Abschlüsse des so genannten Tertiärbereichs A, also von Universitäten und Fachhochschulen. In einem standortpolitischen Länderranking wird angenommen, dass diese Werte etwas über die »Wettbewerbsfähigkeit« einer Nation im wissensbasierten High-Tech-Kapitalismus aussagen.

Nur 20,6 Prozent eines Altersjahrganges schließen in Deutschland derzeit ein Studium ab, der OECD-Schnitt liegt bei 36,8 Prozent. Deutschland bildet nur etwa halb so viele Natur- und Ingenieurwissenschaftler aus wie Großbritannien oder Frankreich. Noch aussagekräftiger sind die längerfristigen Trends: Zwischen den Jahren 1995 und 2004 stieg die Zahl der Studierenden in Deutschland bloß um acht, im OECD-Durchschnitt hingegen um 49 Prozent.

Eine der üblichen offiziellen Rechtfertigungen für die weit unterdurchschnittliche Zahl der Studierenden ist der Hinweis auf ein hierzulande angeblich funktionierendes System der betrieblichen Berufsausbildung, das eine Alternative zum Studium darstelle. Peinlich nur, dass drei Wochen nach der Vorstellung des OECD-Reports die Bundesagentur für Arbeit bekannt gab, dass zu Beginn dieses Ausbildungsjahres 50 000 jugendliche Bewerber ohne Ausbildungsvertrag auf der Straße stehen. Seit Ende der neunziger Jahre geht die Zahl der angebotenen Lehrstellen absolut und relativ, das heißt im Verhältnis zur Nachfrage, zurück. Nur 20 Prozent aller Betriebe bilden überhaupt noch aus.

An den Hochschulen sieht es nicht viel besser aus. Wegen der chronischen Unterfinanzierung gibt es mittlerweile fast flächendeckende Zulassungsbeschränkungen. Im Mai warnte die Konferenz der Hochschulrektoren davor, dass einige Bundesländer offenbar die Zahl ihrer Studienangebote insgesamt reduzieren würden. Wenn man berücksichtigt, dass auch die Beteilung der erwerbsfähigen Bevölkerung an beruflichen Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen seit Ende der neunziger Jahre auf mittlerweile zwölf Prozent gesunken ist (OECD-Schnitt: 18 Prozent, USA: 37 Prozent), und wenn man die Trends in den verschiedenen genannten Bildungsbereichen zueinander ins Verhältnis setzt, ergibt sich der Befund, dass das deutsche Bildungssystem offenbar aus einer Phase der Stagnation in eine Phase des Schrumpfens gleitet. Das passt nun so gar nicht zu den üblichen politischen Reden über die »wachsende Bedeutung von Bildung« in der »Wissensgesellschaft«.

Diese Krise allein mit dem Einfrieren der öffentlichen Bildungsfinanzierung seit Mitte der neunziger Jahre zu erklären, bliebe zu sehr an den Symptomen haften. Der deutsche OECD-Bildungskoordinator Andreas Schleicher kommt der Sache schon näher, wenn er sagt, es reiche nicht mehr aus, nur »Bildungssysteme aus dem 19. Jahrhundert optimieren zu wollen«.

Wenn derzeit nur 37 Prozent eines Altersjahrgangs ein Studium beginnen, sei dieser Wert kaum zu steigern, solange weiterhin nur 38,8 Prozent überhaupt die Hochschulreife erwerben (OECD-Mittel: 67,7 Prozent). Die Mehrheit der Schüler wird im gegliederten Schulsystem bereits vorher aussortiert und im Alter von zehn Jahren auf so genannte praktische Bildungswege verwiesen, die vom Studium ausschließen.

Die meisten Staaten hingegen, in denen traditionelle Berufsausbildung und akademisches Studium als Option parallel existieren, verfügen nicht nur über integrierte Schulsysteme, sondern haben in der Regel die Berechtigung zum Studium erheblich auf Menschen mit traditionellen Berufsabschlüssen erweitert.

Die deutsche pädagogische Alltagswelt hingegen – weniger die Fachwissenschaft – ist nach wie vor von einer naturalisierenden Begabungsideologie bestimmt, die von der Annahme ausgeht, es gäbe so etwas wie eine unverrückbare Verteilung unterschiedlicher angeborener »Leistungsfähigkeit«, derzufolge immer nur eine Minderheit für »die Wissenschaft« qualifiziert wäre.

De facto sichert das gehobene Bildungsbürgertum durch die künstliche Beschränkung des Zugangs zur gymnasialen Oberstufe – der entscheidenden Institution bei der Verteilung von Bildungschancen – die exklusive Bildung seiner Kinder. Dies befördert eine pädagogische Kultur permanenten individuellen Klassifizierens und (Aus-) Sortierens, die ihre Wurzeln tatsächlich im 19. Jahrhundert hat. Eine Politik permanenten Sparens und Kürzens an öffentlicher Bildung, also der Kampf um den privilegierten Zugang zu knappen Ressourcen in Verbindung mit der zunehmenden betriebswirtschaftlichen Steuerung von Bildungsinstitutionen, hat diese Pseudopädagogik noch einmal gestärkt.

Die interessante Frage aber lautet, wie lange das auf diese Weise noch funktionieren kann. So beklagte sich kürzlich der Informationsdienst des In­stituts der deutschen Wirtschaft, quasi der zentrale Think Tank des Kapitals, darüber, dass der Anteil der Hochqualifizierten mit Meisterbrief oder Hochschulabschluss in Deutschland viel zu gering sei. Dieser Anteil sei von 1991 bis 2002 nur von 21 auf 22 Prozent aller Beschäftigten gestiegen. Auf diese Weise könne das »Arbeitskräftepotenzial« nicht mehr »international konkurrenzfähig bleiben«.

Als positive Beispiele werden Schweden und Finnland genannt, wo über 70 Prozent eines Altersjahrgangs studieren. Als Hauptgrund für die deutsche Misere wird die zu starke Limitierung des Hochschulzugangs aufgrund seiner rigiden Abgrenzung von der betrieblichen Berufsausbildung angegeben. Daher fordert das Institut eine systematische Verkoppelung von traditioneller Berufsausbildung und Hochschulzugangsberechtigung.

Nicht erwähnt wird natürlich, dass die Unternehmen durch einen drastischen Lehrstellenabbau selbst dazu beitragen, dass die Basis für die geforderte Durchlässigkeit »nach oben« abschmilzt. Exakt dies markiert den Widerspruch zwischen Einzelkapital und Klasseninteresse des Gesamtkapitals. Ein Manager, der Ausbildungsplätze abbaut, senkt die Kosten und verbessert so die Bilanz. Er handelt betriebswirtschaftlich ebenso rational wie etwa ein Rektor, der an seiner Hochschule die Zulassungen zum Studium absenkt und so bei gleich bleibendem wissenschaftlichen Personalstamm ihre »Konkurrenzfähigkeit« mit anderen Hochschulen stärkt. Wenn jedoch alle miteinander Konkurrierenden so handeln, kann sich ein gesellschaftlicher Effekt reproduktionsgefährdender »Unterqualifikation« ergeben, der komplett irrational ist. Gegenwärtig ist allerdings keine politische Handlungsperspektive absehbar, die diesen Negativtrend umdreht.