Ein Mord, viele Motive

Die russische Journalistin Politkovskaja kritisierte die tschetschenische Führung. Doch auch andere Gruppen kommen als Auftraggeber ihrer Ermordung in Frage. von ute weinmann, moskau

Viele hatten mit einem tragischen Ende der vor allem für ihre unerbittlichen Reportagen aus Tschetschenien bekannten Journalistin Anna Politkovskaja gerechnet, allerdings nicht zu diesem Zeitpunkt. Sie war über alle Maßen engagiert und emotional bis an die Grenze des Aushaltbaren in den grausamen tschetschenischen Alltag aus Entführung, Folter und Mord verstrickt. Anna Politkovskaja erhielt seit Jahren Morddrohungen, wurde auf dem Weg nach Beslan im September 2004 vergiftet, in Tschetschenien kurzzeitig festgenommen und einige Male in Moskau auf offener Straße bedroht. Auch die Zeitung Novaya Gazeta, für die sie arbeitete, erhielt Anrufe mit kaum verhüllten Drohungen, wie beispielsweise aus dem tschetschenischen Staatsapparat mit der Frage, ob die Korrespondentin wohl auf »Abenteuersuche« sei.

Sie galt vielen als die schärfste Kritikerin des tschetschenischen Premierministers Ramsan Kadyrow, dem sie in ihren zahlreichen Publikationen nachwies, dass er mit seinen Todesschwadronen eine blutige Herrschaft in der kleinen Kaukasusrepublik aufrecht erhält. Am vorvergangenen Samstag wurde Politkovskaja erschossen, zwei Tage zuvor hatte sie in ihrem letzten Interview anlässlich des 30. Geburtstags des tschetschenischen Premierministers auf Radio Svoboda von ihren Nachforschungen über Kadyrows Folterkammern gesprochen.

Aber ob diese Äußerung als Mordmotiv tatsächlich ausreicht, ist fraglich. Kadyrow hat nun das Alter erreicht, mit dem er laut tschetschenischer Verfassung das Präsidentenamt antreten könnte, doch entgegen bisherigen Erwartungen hat die russische Regierung dafür offenbar noch kein grünes Licht gegeben. Ein Mord an einer bekannten Journalistin, noch dazu auf fremdem Terrain, in Moskau, wäre da sicherlich wenig förderlich. Geht man hingegen davon aus, dass die Auftraggeber unter ehemaligen tschetschenischen Sicherheitskräften zu suchen sind, die sich gegen Kadyrow gestellt haben und um jeden Preis dessen Präsidentschaft verhindern wollen, sind Ort und Zeitpunkt des Mordes plausibler.

Die russischen Ermittler wollen eine gegen Kadyrow oder den russischen Präsidenten Wladimir Putin gerichtete politische Kampagne nicht ausschließen, halten jedoch noch zahlreiche andere Versionen für möglich. In Betracht kommen aus ihrer Sicht ehemalige Milizionäre, die nach Veröffent­lichungen der Ermordeten teils langjährige Haftstrafen erhielten oder zur Fahndung ausgeschrieben wur­­den, genauso wie tschetschenische Separatisten, die später auf die Seite der prorussischen Einheiten übergelaufen sind.

Hinter dem Mord könnten allerdings auch Vertreter der russischen extremen Rechten stehen, die Politkovskaja in ihren Listen zur »Erschießung freigegebener« Personen führen. Den zuständigen Ermittlern zufolge wäre es aber auch denkbar, dass es sich nicht um einen klassischen Auftragsmord handelt und stattdessen ein fanatischer Anhänger eines von ihr kritisierten Politikers in Eigeninitiative zugeschlagen hat.

Am Donnerstag voriger Woche verkündete der stellvertretende Generalstaatsanwalt Aleksandr Buksman, es seien bei den Ermittlungen Fortschritte zu verzeichnen. Doch welche neuen Erkenntnisse dieser Einschätzung zugrunde liegen, teilte er nicht mit. Ähnliche Andeutungen machte der Chefredakteur der Novaya Gazeta, Dmitrij Muratow. Es lägen neue Informationen vor, und die umgerechnet etwa 750 000 Euro, die ein Aktionär der Zeitung für Hinweise, die der Aufklärung des Mordes dienlich sein könnten, bereitgestellt hat, mögen ihren Teil zur Beschleu­nigung der Ermittlungen beitragen. Aber wer auch immer des Mordes überführt werden wird – die Wahrscheinlichkeit, dass der tatsächliche Auftraggeber genannt und bestraft wird, ist angesichts der politischen Brisanz des Falles sehr gering.