Pamuk über Pamuk

Die Verleihung des Literaturnobelpreises an Orhan Pamuk böte einen vortrefflichen Stoff für einen Roman von Orhan Pamuk. von deniz yücel

Wir wollen uns einen Roman vorstellen. Einen vielschichtigen, aus mehreren Perspektiven erzählten und auf verschiedenen Zeitebenen handelnden Roman. Einen, der an den Schicksalen seiner Figuren Anteil nimmt und doch distanziert bleibt, der trotz seiner komischen Momente melancholisch und traurig ist. Einen Roman, der sich dem Verhältnis von Orient und Okzident widmet und von den gegenseitigen Beeinflussungen und Spiegelungen wie von den gegenseitigen Missverständnissen und Kränkungen spricht. Einen Roman, der von der Größe und der Unzulänglichkeit des Menschen handelt und von seiner Suche nach dem Glück. Schließlich einen Roman voller Reflexionen über die eigene Kunst­form, über die klassische Moderne, über den westlichen Blick auf Künstler aus der Peripherie. Und über die Entwicklung der türkischen Literatur von den Arbeiten im Dienste der Modernisierung über die sozialkritischen, doch ebenfalls erzieherischen späteren bis zu den skeptischen und individualistischen der Gegenwart.

Die Hauptfigur wäre der bekannteste Repräsentant dieser Entwicklung. Zu Zeiten eines globalen Clashs der Zivilisationen und eines möglichen EU-Beitritts der Türkei würde er den Nobelpreis für Literatur erhalten – als erster türkischer Schrift-steller und als zweiter aus einem muslimischen Land.

Der Held würde wirken, als wäre er der große Alte der türkischen Literatur, auch wenn er gerade einmal Anfang 50 wäre. Wie kaum ein kritischer Geist seiner Generation hätte er sich aus den Konflikten, die während seiner Jugend getobt hätten, herausgehalten und sich in sein Studierzimmer zurückgezogen, das stets sein liebstes Refugium geblieben wäre. Er würde auf dieser Enthaltsamkeit bestehen, die er in einem sehr politisierten und polarisierten Land als Bedingung der Kunst erachten würde.

Dennoch würde er sich ab und an politisch betätigen. Und einmal würde er sich zu folgendem Satz hinreißen lassen: »Man hat hier 30 000 Kurden umgebracht. Und eine Million Armenier. Und fast niemand traut sich, das zu erwähnen. Also mache ich es. Und dafür hassen sie mich.« Ausländische Journalisten würden ihm dafür die höchste Wertschätzung zollen, während viele seiner Landsleute ihn spätestens danach tatsächlich hassen würden. Andere Landsleute, kritische Intellektuelle wie er, würden ihm dies ebenfalls verübeln. Sie hätten den Eindruck, der Schriftsteller sei eitel und hochnäsig gegenüber den Bemühungen anderer. Vielleicht hätten sie Recht, doch übersähen sie, wie zärtlich der Autor sich in seinen Werken in Andere Einfühlen könnte. Jedenfalls würden sie sich zurückhalten, wenn der Held wegen jener Äußerung vor Gericht erscheinen müsste, wo ihn Polizisten nur widerwillig vor den Übergriffen tobender Nationalisten schützen würden.

Zu gegebener Zeit würde er seine inkriminierte Aussage relativieren. Seine türkischen Kritiker würden ihm dies als Opportunismus auslegen, seine europäischen Freunde verlegen darüber schweigen. Dann würde er, vielleicht im Gespräch mit einer linken Wochenzeitung, davon sprechen, dass außerhalb der westlichen Welt viele Menschen um ihre Bedeutungslosigkeit wüssten und dass dieser Schmerz für den Zorn von Nationalisten, Islamisten und Links­radikalen verantwortlich sei. Er würde feststellen, dass »der Westen« kaum eine Vorstellung von dem »Gefühl der Erniedrigung habe«, das eine große Mehrheit der Weltbevölkerung erlebe. Im Ausland würde man diese Gedanken zur Kenntnis nehmen, was aber nichts daran ändern würde, in dem Autor eine »westliche« Stimme zu sehen.

Dann würde die Preisvergabe bekannt, just an dem Tag, an dem das französische Parlament beschließen würde, die Leugnung des Völkermords an den Armeniern unter Strafe zu stellen. Diese Dramaturgie, die der Leser wohl als unrealistisch missbilligen würde, würde erst recht dazu führen, beide Ereignisse zusammen zu verhandeln. So würde eine deutsch-türkische Journalistin in der Internetausgabe eines Nachrichtenmagazins berichten, dass sich die Türkei in »zwei Lager« gespalten habe, dass es wenige gebe, die die Ansichten des Schriftstellers teilten, und »Millionen«, die glaubten, dieser sei nur wegen seiner Kritik an der Türkei geehrt worden. Wir würden nicht erfahren, ob die Journalistin die Dinge wirklich so wahrnehmen oder den Vorstellungen ihrer Auftraggeber zu entsprechen versuchen würde.

Dafür würde ein deutscher Feuilleton­chef auf der Titelseite seines Blattes schreiben, dass der preisgekrönte Autor an der »äußersten Front unseres westlichen Lebensstils und seiner Überzeugungen« stehe und nicht weniger sei als »der Westen«. Auch hier würden wir nicht erfahren, ob der Journalist aus Berechnung oder Borniertheit den Umstand übergehen würde, dass die schärfsten Gegner des Schriftstellers nicht unter den Islamisten zu finden wären, sondern unter nationalistischen und darum modernistischen Eliten. Auffallen aber würde uns, dass eine solche Vereinnahmung und Vereinheitlichung das Werk eines Autors beleidigen würden, der sich für die Übergänge und Vermischungen interessieren würde und zwar ein westlicher Denker, aber mitnichten ein Claqueur »des Westens« wäre.

Auch die Melancholie seiner Stadt, über die er so oft geschrieben haben würde, dass auch das Nobelpreiskomitee darauf eingegangen wäre, würde er auf die widersprüchlichen und schmerz­lichen Erfahrungen der Modernisierung zurückführen. Hingegen würden derlei Gratulanten den Eindruck erwecken, sie seien dazu angetreten, die Kritik des Autors zu bestätigen, dass sich Europäer nur dann für Menschen aus der Peripherie interessierten und mit ihnen fühlten, wenn sie in ihnen Opfer sehen könnten, wodurch sie sich selbst als überlegen, klug und human fühlen könnten.

In seinem Land wäre der Held den Schmeicheleien von Leuten ausgesetzt, die ihn zuvor als karrieristischen Nestbeschmutzer beschimpft hätten. »Der Nobelpreis gehört einem Türken«, würde die größte Zeitung titeln, und fast alle würden beteuern, »trotz allem« Stolz und Freude zu empfinden. Westliche Beobachter könnten kaum glauben, dass diese Gefühle nicht mehr und nicht weniger echt wären als der vorangegangene Zorn.

Doch den Schriftsteller würde es freuen. Bescheiden, aber um die versöhnliche Wirkung solcher Worte wissend, würde er sagen, der Preis sei »eine Ehre für die türkische Sprache, die türkische Kultur und die Türkei«. Insgeheim aber wäre er enttäuscht, dass die Freude, die in seinem Land bei jedwedem internationalen Erfolg aufkommen und mit der unfreiwilligerweise das kollektive Gefühl der Unterlegenheit zelebriert würde, dieses Mal so gedämpft ausfallen würde.

Schon bald würde sich ein böses Ende abzeichnen. Der Schriftsteller wäre hin- und hergerissen zwischen den verschiedenen Erwartungen, die fortan an ihn gerichtet werden würden, etwa der, dass er zeigen möge, was »unsere Welt von der Welt ihrer Todfeinde« trenne, oder jener, dass er bedacht und staatsmännisch auftreten solle. Er würde zerrieben zwischen dem wohltuenden Gefühl der Anerkennung, die er, in welch entstellter Form auch immer, endlich laugt hätte, und dem Schmerz darüber, sein inneres Exil einzubüßen. Er würde die ihm auferlegte politische Mission zurückweisen und sie doch übernehmen. Er würde sich bemühen, sein Land zu repräsentieren und zugleich darauf pochen, ein kosmopolitischer Weltliterat zu sein. Die Verzweiflung und die distanzierte Haltung, die ihn einst zum Schreiben gebracht hätten, würden allmählich sein Schaffen blockieren. Sein Buch, an dem er seit Jahren arbeitete, würde ihn mehr und mehr quälen, und das ursprüngliche Thema – ein Liebesroman, der in der zeitgenössischen Istanbuler Oberschicht spielen sollte – würde in seinen Händen zum Autobiographischsten gerinnen, was er je zu Papier gebracht hätte. Letztlich würde er scheitern.

Später würde ein Freund aus früheren Tagen im Nachlass dieses Romanfragment finden, darum wissend, dass ein Roman nicht ganz Wirklichkeit ist. Aber auch nicht ganz Phantasie.