Die Blutrache kehrt zurück

Die tschetschenische Regierung behauptet trotz anhaltender Auseinandersetzungen, die Lage im Griff zu haben. Der Premierminister soll an Folterungen von russischen Soldaten beteiligt gewesen sein. von ute weinmann, moskau

Tschetschenien kämpft erfolgreich gegen den Terrorismus«, so lautet das offizielle Credo der tschetschenischen Regierung unter Premierminister Ramsan Kadyrow. Die Lage in der kleinen Kaukasusrepublik habe sich »stabilisiert«, heißt es, jetzt gelte es nur noch, einigen versprengten terroristischen Banden Einhalt zu gebieten. Bilder von Krieg und Zerstörung in den Medien sind längst einer optimistischen Berichterstattung über Prosperität und politisches Alltagsgeschäft gewichen. Tschetschenien steht in den offiziellen Verlautbarungen wieder in einer Reihe mit den anderen 87 Verwaltungssubjekten der Russischen Föderation. Kadyrow darf sein kleines Reich öffentlich gar als die sicherste Region im Land preisen. Von Krieg angeblich keine Spur.

Mitte Oktober veröffentlichte das Innenministerium Angaben, wonach sich seit Jahresbeginn etwa 300 separatistische Kämpfer gestellt hätten, 53 seien ums Leben gekommen. Doch diese Erfolgsmeldung wird konterkariert durch die in den vergangenen Wochen wieder stark angestiegene Aktivität der Separatisten. Dies gab unlängst Präsident Alu Alchanow zu bedenken, und selbst aus dem Stab der in Tschetschenien stationierten russischen Streitkräfte waren im Oktober statt der gewohnten Erfolgsmeldungen besorgniserregende Einschätzungen zu hören. Allein in der ersten Hälfte des Monats verzeichneten die russischen Truppen beinahe täglich Schusswechsel mit separatistischen Einheiten, zudem Explosionen und drei größere Kampfeinsätze, bei denen zwölf Angehörige der russischen Streitkräfte verletzt wurden. Über etwaige Todesopfer gab es keine Meldungen.

Dennoch kommen immer wieder russische Soldaten ums Leben, so wie in der Nähe der Ortschaft Kotar-Jurt am 17. Oktober bei einem gemeinsamen Einsatz mit dem Bataillon Sewer (Nord), das den Truppen des tschetschenischen Innenministeriums zugeordnet ist. Am Vortag gab es Verletzte, nachdem eine Scharfschützeneinheit in einen Hinterhalt geraten war. Der bergige Süden der Republik bietet den separatistischen Gruppen immer noch eine gewisse Sicherheit. Einheimische berichteten gar von Straßenblockaden und Aus­weis­kon­trol­len, die die Separatisten über einen längeren Zeitraum aufrechterhielten, offenbar auf der Suche nach Angehörigen der offiziellen Streitkräfte. Ein tschetschenischer Milizionär sei dabei erschossen worden. Anfang des Jahres waren sogar einige Dutzend Anhänger Kadyrows zu separatistischen Einheiten übergelaufen.

Die Hoffnung der Regierung, die Handlungsfähigkeit der separatistischen Einheiten werde nach dem Tod ihrer wichtigsten Führungspersonen, Aslan Maschadow und Schamil Bassajew, auf ein Minimum schrumpfen, hat sich nicht erfüllt. Um das erhoffte Ende der Einheiten zu beschleunigen und diejenigen zu einer Absage an den bewaffneten Kampf zu bewegen, die bislang dennoch weiter daran festhalten, wurde innerhalb kürzester Zeit ein Amnestiegesetz verabschiedet. Unter das seit Ende September geltende Gesetz fallen außerdem bereits verurteilte Separatisten oder solche, gegen die derzeit ein Ermittlungsverfahren läuft, sowie Angehörige der russischen Streitkräfte, die geringfügiger Straftaten beschuldigt werden.

Es handelt sich nicht um die erste Amnestie seit Kriegsbeginn. Von der letzten Initiative vor drei Jahren machten im Wesentlichen ehemalige Kämpfer Gebrauch, die längst keinen bewaffneten Einheiten mehr angehörten, denn die Wahrscheinlichkeit, dass sie ansonsten zu langen Haftstrafen verurteilt würden, war groß. Zugleich sicherte Kadyrow aus diesem Anlass, allerdings ohne Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben, mehreren hundert Separatisten Straffreiheit unter der Bedingung zu, dass sie den unter seinem Befehl stehenden Truppen beitreten.

Das neue Gesetz sieht noch weniger Straftaten für eine Amnestie vor als das alte und taugt demnach genau so wenig als Grundlage für eine absehbare Beendigung der Kampfhandlungen. Aber womöglich geht es darum auch gar nicht.

Die Anfang Oktober in Moskau ermordete Jour­na­listin Anna Politkovskaja wies in einem ihrer letzten Artikel auf eine andere Me­thode hin, die Stabilität verspricht: das System der Blutrache. Ausgerechnet die russische Führung ha­be die Blutrache als Instrument zur Machtsicherung erkannt und dementsprechend eingesetzt. In den Reihen der tschetschenischen Einheiten, die der russischen Regierung treu sind, befinden sich zahlreiche Kriminelle, die sich durch Menschenraub und Mord hervorgetan haben. Die Zugehörig­keit zu den offiziellen Streitkräften verleiht ihnen jene Macht und Stärke, die sie benötigen, um sich vor Racheakten der Verwandten ihrer Opfer zu schüt­zen und diese selbst hinzurichten. Dahinter steckt das Kalkül der russischen Führung, ein dauerhaftes Gegengewicht zu den Separatisten zu etablieren.

Beispiele für die Einbindung Krimineller existieren zur Genüge, von den Anführern der Bataillone »Wostok« und »Zapad«, Sulim Jamadajew und Said-Magomed Kakijew, über den Kommandanten einer Sondereinheit des Inlandsgeheimdienstes FSB, Mowladi Bajsarow, bis zu den Truppen von Ramsan Kadyrow.

Alle diese Einheiten verbreiten in Tschetschenien nicht weniger Angst und Schrecken als noch vor wenigen Jahren die russischen Streitkräfte. Denn weiterhin »verschwinden« Menschen, und es wird gefoltert und gemordet. Doch scheinen die der russischen Regierung treuen Truppen kalkulierbarer, und ihre Brutalität ist auf einen relativ klar eingrenzbaren Teil der tschetschenischen Bevölkerung beschränkt. Sie morden weder nach einem ethnischen Prinzip noch verfolgen sie gezielt Separatisten, vielmehr sind bestimmte Familienverbände betroffen, und persönliche Motive spielen dabei eine dominante Rolle.

Politkovskaja charakterisierte den tschetschenischen Premierminister in einer Radiosendung anlässlich seines 30. Geburtstags – zwei Tage vor ihrem gewaltsamen Tod – folgendermaßen: »Kadyrow, das ist der Stalin unserer Zeit – ein Feigling, bis an die Zähne bewaffnet und von Bodyguards umgeben.« Bei ihren Nachforschungen stieß sie auf zahllose Beweise für Folterungen, die von seinen Truppen begangen wurden, die auf diese Art Aussagen vermeintlicher Terroristen erzwangen. Bereits im Frühjahr machte sie in einem Artikel darauf aufmerksam, dass Kämpfer von Kadyrows Truppen auch russische Soldaten misshandelten. Aber erst jetzt leitete die Staatsanwaltschaft aufgrund eines Videos von sehr schlechter Qualität, das mit einem Handy aufgenommen worden war, Ermittlungen ein. Die Aufnahmen zeigen auch einen Mann, dessen Aussehen dem Kadyrows entspricht.

Ob ihm dieses Verfahren aber tatsächlich Schaden zufügen kann, wird davon abhängen, wie eng der Kreml weiterhin die politische Zukunft Tschetscheniens mit seiner Person verknüpft.