Die Götter träumen

»Quei loro Incontri« ist der letzte gemeinsame Film der kürzlich verstorbenen Danièle Huillet und ihres Partners Jean-Marie Straub – und ihr traurigster. von markus nechleba

Ein zweites Mal nehmen Danièle Huil­let & Jean-Marie Straub die 1947 erschienenen »Gespräche mit Leuko« von Cesare Pavese zur Grundlage eines Films. In »Dalla Nube Alla Resistenza« (1978) bildeten sechs dieser Dialoge zwischen Figuren aus der griechischen Antike und Mythologie den ersten Teil des Films. »Quei loro Incontri« (2005) besteht aus den letzten fünf Gesprächen des Buches.

Revolution bedeutet, sehr alten und vergessenen Dingen ihren Platz zurückzugeben – diesen Satz von Charles Péguy hält Jean-Marie Straub immer wieder bereit, wenn es um die Zukunft der Gesellschaft geht, genauso wie Wal­ter Benjamins Ausspruch von der Revolution als dem »Tigersprung ins Vergangene«: »Das ist auch die Idee von Pavese mit seinen mythologischen Dia­logen, er wollte seine Genossen spüren lassen, dass die Flucht in die Zukunft nicht ausreicht.« In Zeiten des Staatskommunismus wurden derartige Äußerungen stets als häretisch und reaktionär bekämpft.

Man sollte beachten, dass nicht von der Wiedereinsetzung einer Vergangenheit die Rede ist, sondern von Vergangenem, von sehr alten oder vergessenen Dingen. Die Götter und göttlichen Wesen, Erzählungen einer vergangenen agrarischen Gesellschaftsform, die in den Dialogen auftreten, sind gewiss ambivalent. Sie sind Formulierungen – Personifizierungen – von Macht, und sie werden bis heute verweltlicht, tech­nisiert, von den realen politischen und gesellschaftlichen Kräften besetzt und ins­tru­mentalisiert. Andererseits verkörpern sie Geist und Moral. Und damit auch die ethische Empfindung gegenüber der Welt des Sinnlichen und Menschlichen.

»Quei loro Incontri« ist vielleicht der traurigste Film der Straubs, weil er aus der Perspektive der Götter von den bedauernswerten Menschen im Allgemeinen spricht und keine individuelle Geschichte erzählt. Er ist aber vielleicht auch derjenige, der die »ethische Gewalt« (Franco Fortini) ihrer Filme am sanftesten zum Ausdruck bringt. Es ist erschütternd, wie diese Götter von Sehnsucht und Trauer zugleich ergriffen werden, wenn sie von den erbärmlichen und dennoch beneidens­werten Menschen sprechen. Sie sehnen sich nach deren Sterblichkeit, die, weil sie vom ewigen Schicksal befreit, »alles unvermutet und Entdeckung« werden lässt. Sie bewundern sie für ihre Fähigkeit zu benennen, denn überall, »wo sie Mühsal und Worte aufwenden, wird ein Rhythmus, ein Sinn, eine Ruhe geboren«. Wie schön muss es sein, »sich selbst zu gestalten, auf diese Art der Laune nach«. Sie sehen aber auch, dass die Menschen elend, gemein und berechnend sind, dass sie ihre Geschichten immer mit Blut erzählen, den Wert ihrer Existenz nicht erkennen und sich an der Welt versün­digen.

Unverständnis und Zorn kommen dann auf, aber es sind ihr Wohlwollen, ihr Wille, den Menschen zu helfen, und zugleich ihre Ohnmacht, die bestürzend sind. Nein, nicht ein Gott wird die Mensch­heit retten. Eine göttliche Erzählung allenfalls, die die Menschen lehrt, »dass der Tod auch für sie neu ist. Ihnen diese Erzählung geben. Sie ein Schicksal lehren, das sich mit dem unsren verflicht.«

Man muss sehen, wie die Darsteller, die Götter und Menschen in den Einstellungen des Films verflochten sind mit ihrer Umgebung, der Natur, den Bäumen, Ästen, den Blättern im Wind, den Felsen, mit Licht, Farben und Schat­ten und den Geräuschen, mit dem Sinn dessen, wovon sie sprechen. Wie sie mit festen Stimmen und präziser Diktion diesem Sinn eine eindringliche, rhythmisierte Form geben, die sich in den lebendigen, ruhigen Raum einfügt. Physischer Geist, sinnliches Denken (im wirklichen Sinne, weder symbolistisch noch metaphorisch). Die Menschen sind den Göttern, auch den Ungeheuern und Mischwesen, und der Natur verwandt.

In »Dalla Nube Alla Resistenza« sind die Götter gleichwohl Mächte, die die Menschen verführen und die es zu bekämpfen gilt wie die faschistischen Ideo­logien und die gegenwärtigen Technokratien. Die offene, noch nicht zur Faust geschlossene Hand des Jungen am Ende des Dialogs mit seinem Vater vor den Opferfeuern ist ein erstes Zeichen des Widerstandes.

Der zweite Teil des Films – ein Stück aus Paveses Roman »Der Mond und die Feuer« (1950) – erinnert in den Gesprächen zwischen dem aus dem ameri­kanischen Exil zurückgekehrten »Bas­tard« und den Dagebliebenen an die Zeit der Resistenza gegen den Faschismus: Erzählungen, die von der Unsicher­heit zeugen, was Widerstand ist. Er müsste beginnen, fortdauern, wo diesel­be Verachtung und dieselben Ver­hält­nis­se fortdauern. Er endet aber dort, wo Armut und Zwang nur die Selbstzerstörung als Alternative übrig­lassen. Dazwischen gibt es wenig Klarheit. Und doch bezeugt jeder Straub-Film aufs neue: Genau so und jetzt müsste und könnte ein ganz anderes, neues Leben beginnen.

In den Wäldern um das toskanische Buti – damals entdeckt, inzwischen Zentrum der Proben, Theateraufführungen und Dreharbeiten geworden – inszenierten die Straubs dann, in zweien ihrer Filme nach Elio Vittorini die Zerstörung der Gemeinschaft und des utopischen Gedankens, die Demütigung der Menschen durch die (gleichgesinnten) Menschen. Dort ist das letzte Zeichen, das in der äußersten Verlassenheit übrigbleibt, die sprachlos geballte Faust.

So gottverlassen und elend wie in »Quei Loro Incontri« erschien unsere Gegenwart noch nie. Aber gegen Ende heißt es: »Ein Nichts genügt, und das Gelände wird wieder das gleiche wie damals, als diese Dinge geschahen. Es genügt ein Hü­gel, ein Gipfel, ein Abhang. Dass es ein einsamer Ort ist und dass deine Augen hinaufsteigend im Himmel anhalten wer­den.«

Die letzte Einstellung des Films – ein Schwenk, hinaufsteigend in den Himmel – deutete die Geschichte als die einer endgültigen Entfremdung zwischen Menschen und Göttern, hätte es zuvor nicht eben jene Dialoge gegeben: Sie ist wie das Erwachen aus einem lebendigen Traum, eine Rückkehr in die eigene, ein­same Wahrnehmung eines Trostlosen, in die hineinragt die ungeheuerliche Er­innerung an »jene ihre« – unsere verlorengegangenen – »Begegnungen«. Nicht nur den Fabelwesen, auch den Göttern begegnen wir nur noch in Träumen – oder in den Filmen von Danièle Huillet & Jean-Marie Straub.

Zur Erinnerung an die am 9. Oktober verstorbene Danièle Huillet zeigt das Zeughauskino im Deutschen Historischen Museum in Berlin den letzten Film von Straub/Huillet.

Quei loro Incontri (Jene Ihrer Begegnungen) I 2005. R+B: Danièle Huillet & Jean-Marie Straub