»Er wurde gewaltsam entführt«

In Argentinien ist ein Hauptbelastungszeuge, der im Prozess gegen einen Funktionär der Militärdiktatur auftrat, spurlos verschwunden.

Gustavo Palmieri ist Leiter des Bereichs Institutionelle Gewalt der Menschenrechtsorganisation Centro de Estudios Sociales y Legales in Buenos Aires.

Julio López ist seit über einem Monat nicht mehr aufgetaucht. Der Vorgang erinnert an das »Verschwinden« von 30 000 Menschen während der argentinischen Militärdiktatur (1976 bis 1986). Was ist mit López passiert?

López ist 76 Jahre alt, und er war Hauptbelastungszeuge im Verfahren gegen den ehemaligen Polizeichef der Provinz Buenos Aires, Miguel Etchecolatz. Wir wissen, dass er seit dem 18. September verschwunden ist. Also genau seit dem Tag vor der Urteilsverkündung, als Etchecolatz wegen Verbrechen gegen die Menschheit zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde. Erst ging man davon aus, dass López sich dem öffentlichen Interesse an seiner Person entziehen wolle oder krank sei. Und das aus dem einfachen Grund, dass man sich nichts anderes vorstellen konnte. Mittlerweile steht jedoch fest: Er wurde gewaltsam entführt.

Wer könnte hinter dieser Entführung stecken?

Es gibt keinerlei Zeugen oder Hinweise darauf, wer ihn entführt hat. Menschenrechtsorganisationen vermuten rechte Kräfte hinter der Tat. Im Gegensatz zu früher geht es nicht um staatliche Stellen, die Menschen verschleppen, sondern um unabhängig agierende Personen, die in Verbindung zur ehemaligen Militärdiktatur stehen. Allerdings ist López nicht der erste, der nach dem Ende der Militärdiktatur verschwunden ist. Einzelfälle, in denen die Polizei jemanden verschleppte und ermordete, hat es schon früher gegeben.

Warum verlaufen die Ermittlungen so schleppend? Die Medien veranstalten doch eine große Suchaktion, und überall in Buenos Aires hängen Plakate.

Das ist wiederum ein staatliches Problem. Denn obwohl die politischen Entscheidungsträger ein großes Interesse daran haben, dass López wieder auftaucht beziehungsweise dass aufgedeckt wird, wer ihn ermordet hat, sind die verantwortlichen Stellen unfähig, effektiv zu ermitteln – sei es der Geheimdienst, sei es die Polizei.

Heißt das, dass diejenigen, die López finden sollen, die Täter decken?

So funktionalistisch würde ich das nicht sehen. Vielleicht gibt es personelle Verstrickungen, wahrscheinlicher ist jedoch, dass einfach kein Unrechtsbewusstsein existiert. Es hat eben nie eine wirkliche institutionelle Aufarbeitung gegeben. Bei der Provinzpolizei gab es ein paar Reformversuche, aber eigentlich ist sie korrupt und antidemokratisch. Die Funktionäre im Geheimdienst sind teilweise noch die gleichen wie während der Diktatur. Und das zeigt, dass Erinnerungspolitik durchaus etwas mit der Gegenwart zu tun hat.

Die argentinische Rechte ist ja, seitdem die Menschenrechtsverbrechen juristisch aufgearbeitet werden, ziemlich erstarkt.

Rechte Personen und Organisationen, die jahrelang nicht zu Wort kamen, treten jetzt in der Öffentlichkeit auf und fordern »Versöhnung«. Aber eigentlich haben sie gesellschaftlich nicht wirklich viel zu melden. Vor zehn oder 15 Jahren saßen sie in der Regierung, und jetzt verteidigen sie einfach die früheren Amnestiegesetze, die sie damals beschlossen haben.

Sind denn zukünftige Prozesse gegen frühere Militärs gefährdet, etwa weil Zeugen nun Angst haben?

Nein, bis jetzt hat noch keiner erklärt, dass er nicht aussagen wird. Aber der Fall López, der auch für Menschenrechtsaktivisten eine böse Überraschung darstellt, hat sicher zur Folge, dass man ein Zeugenschutzprogramm entwickeln muss. Außerdem muss man wirksam den Kräften entgegentreten, die jetzt eine Rückkehr zur Straffreiheit fordern.

interview: jessica zeller