Stammtisch für die Massen

Der Freiraum Stadion ist ein Ort mit eigenen Regeln, in dem mehr erlaubt ist als an anderen Orten der Gesellschaft. Rassismus wird nicht nur toleriert, er ist erwünscht.

Der Welt, im Sommer noch bei Freunden zu Gast, ist nicht sehr viel Zeit geblieben, das deutsche WM-Beiprogramm Love, Peace und lustiges Fahnenspazierenfahren als Ausdruck der neuen Offenheit, Toleranz und Leichtigkeit des Landes zu sehen, da war sie in den Stadien auch schon wieder unerwünscht. Rassistische Beschimpfungen schwarzer, jüdischer oder vermeintlich jüdischer, schwuler oder diffus als irgendwie anders verorteter Spieler kamen bereits kurz nach dem Anpfiff der neuen Saison in einer derartigen Häufung vor, dass man den Eindruck haben musste, seit der Fußballweltmeisterschaft nur mühsam Zurückgehaltenes entlade sich nun mit einem großen Knall. Nicht nur in den Stadien der Republik, auch auf den Straßen wurden die Übergriffe und Pöbeleien nach dem Ende der großen Sommerferien vom Rassismus mit völliger Selbstverständlichkeit wieder aufgenommen.

In die Schlagzeilen schaffte es dabei bisher hauptsächlich der Rassismus in den Stadien, was einerseits an der neuen Linie des DFB-Präsidenten Theo Zwanziger liegt, der anlässlich einer Ausstellung über Fußball und Antisemitismus im Berliner Centrum Judaicum betonte, dass der Verband als Vertreter einer Massensportart seine Verantwortung im Kampf gegen Nazis sehr ernst nehme und entsprechend handeln werde. Andererseits rührt das mediale Interesse an Übergriffen durch Fans daher, dass in den Stadien offener und unverschämter ausgelebt wird, was anderswo nur gedacht wird.

Warum? Fußballstadien waren immer schon weit mehr als nur Plätze, auf denen gekickt, gejubelt und getrauert wird. In jedem Sinne, im guten wie im bösen, ist dort mehr erlaubt, als außerhalb der Stadien gesellschaftlich toleriert wird. Im Freiraum Stadion durften Männer seit dem ersten Anpfiff zu allen Zeiten Emotionen und Verhaltensweisen zeigen, die sie andernorts unterdrücken mussten: Sie konnten nach Herzenslust weinen, sich umarmen und küssen, schief und laut singen, sich bunt anziehen und bis zur Lächerlichkeit verkleiden.

Der Fußball und sein Ort, das Stadion, bieten aber noch mehr, nämlich Halt. Hier wird Treue, die sonst kein Mensch mehr gebrauchen kann, noch belohnt. Seit 30 Jahren kein Heimspiel verpasst und sogar den Urlaub für ein Match unterbrochen zu haben, wird bei den Kumpels in der Kurve nicht belächelt, sondern ehrfürchtig bewundert. Im modernen Leben wird alles gewechselt: Wohnort, Arbeit, Lebenspartner – aber wer wechselt schon den Verein? Der Verein und sein nicht selten als beinahe religiöser Ort wirkendes Stadion bieten zudem die Chance zur Identifikation mit zumindest temporärem Erfolg. »Wir« sind Mannschaft, Verein, Fans, und dieses »Wir« kann in der Liga oder im Pokal ab und zu mit den Großen mithalten. Das »Wir« klingt im Stadion nicht ganz so dämlich wie an anderen Orten.

Der Freiraum Stadion erlaubt aber auch anderes: Hier darf geschimpft und gepöbelt werden. Der Ausdruck »schwarze Sau«, sofern der Schiedsrichter gemeint ist, gilt nicht als schlimm. Zumindest noch nicht. Denn der Freiraum Stadion ändert sich, wird weniger frei. Langsam wird er von der, wenn man so will, »Gesellschaft« gefüllt. Dass die Bezeichnung »Neger« für Schwarze etwas Herabsetzendes und Beleidigendes enthält, hat sich in den meisten Teilen der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten herumgesprochen. Das Fußballstadion gehört zu den letzten Orten, wo diese Erkenntnis noch nicht gilt. Nicht aus Unkenntnis und Unwissen, sondern aus rassistischem Willen.

Im Stadion ist Rassismus mehr als nur toleriert – er ist normal, erlaubt und erwünscht. Hier kann, wer »Drecksneger in den Busch« ruft, sein Renommee verbessern. Auch Diffamierungen wie »schwule Sau« oder »Asylantenpack« sind nicht etwa, was schon skandalös wäre, toleriertes Fehlverhalten, sondern mehr noch: absolut gängige Ausdrucksweise.

Es ist also nicht eine soziale oder menschliche Besonderheit von Fußballfreunden, die sich hier offenbart, sondern es sind die Besonderheiten des gesellschaftlichen Freiraums Fußballstadion, die den Ausbruch von sonst latentem und unterdrücktem Rassismus ermöglichen.

Dass das Stadion ein Ort mit eigenen Regeln ist, macht es auch zu einem attraktiven Ort für fußballfremde Gruppen. Immer wieder kam es in der Vergangenheit beispielsweise zu Offensiven von organisierten Nazigruppen. Britische Rechtsextremisten hatten bereits in den siebziger Jahren vorgemacht, wie man erst erfolgreich Fanszenen unterwandert und anschließend dominiert. Deutsche Neonazis um Michael Kühnen versuchten in den achtziger Jahren, weniger erfolgreich, das Konzept zu übernehmen.

Leicht gemacht wurde es solchen Gruppen nicht nur durch den höchstens noch mit dem Stammtisch vergleichbaren Freiraum Stadion. Unterstützend wirken auch die klaren Hierarchien, die in der Fanszene herrschen. Die Perspektive, wenigstens im Sport, also in der Karriere als Fußballfan, aufzusteigen und gesellschaftliche Anerkennung zu bekommen, ist es, die das Fansein für viele Zuschauer so attraktiv macht. Beschreibungen dieser typischen Fankarrieren beginnen meist mit einem kleinen Jungen, der mit seiner Fahne ins Stadion geht und dort die Großen neidisch betrachtet, die mit Megafon auf dem Zaun stehen. Nach und nach erobert er dann seinen Platz im Stadion, und eines Tages, durch Schlagfertigkeit, gezielte Brüche von gesellschaftlichen Tabus und Daueranwesenheit, gehört er zu den Wortführern.

Eine gut organisierte Gruppe entschlossener junger Männer kann in diesem Milieu sehr schnell nicht nur aufsteigen, sondern die Atmosphäre entscheidend bestimmen, vor allem dann, wenn sie willens ist, Gewalt auszuüben. Kleinere Vereine bieten noch mehr Möglichkeit zu sozialem Aufstieg und Anerkennung. Die allgemeine Krise des Ehrenamts hat zur Folge, dass die vielen Jobs, die in deutschen Vereinen zu vergeben sind, kaum noch besetzt werden können. Materieller Gewinn lässt sich durch Vereinsämter kaum erzielen, sehr wohl aber winkt die Aussicht auf soziale Anerkennung. Wo man so leicht in Ämter wie das des Schatzmeisters oder gar des Präsidenten gelangen kann, die wegen der Struktur deutscher Vereine mit einem autoritären Weltbild bestens kompatibel sind, sind Rechtsextreme nicht weit.

Weil der Freiraum Stadion in den durchkapitalisierten Arenen der Spitzenclubs kleiner ist als in den Stadien der unterklassigen Clubs, findet in den letzten Jahren eine Verlagerung der rechten Aktivitäten statt. Nicht erst die jüngsten Vorfälle bei Amateurclubs haben gezeigt, dass die Szene und ihre Mitläufer zunehmend zu kleinen Vereinen abwandern. Die schleichende Verbürgerlichung des Bundesligafußballs, auch durch die Umwandlung der Stehplätze, vormals letztes Refugium der Unkontrollierbarkeit, in Sitzplätze, bewirkte, dass die großen zivilisierenden Diskurse greifen.

Das liegt aber auch an den Erfolgen antirassistischer Arbeit. Fans, Medien, Spieler, Trainer und die Vereine selbst ächten vermehrt rassistische Parolen und Aktionen, beispielsweise mit Stadionverbot. Das machen kleinere Vereine nicht. Stadionverbote würden zum einen aufgrund mangelnder Kontrollmöglichkeiten der personell schlecht ausgestatteten Clubs kaum greifen, andererseits kann kaum ein Kassenwart auf einen Eintrittzahler, Biertrinker und Würstchenesser verzichten. Zudem ist die mediale Aufmerksamkeit geringer und die lokale Verankerung, die ja auch ein Schutz ist, größer. Eine typische Äußerung ist etwa: »Ach, der Peter ist kein Nazi, der ist hier groß geworden, da kannte ich schon den Vater.« Und die Welt ist im Provinzstadion ganz einfach unerwünscht.