Ein blutiger Fehler

Nachdem 19 Menschen durch israelischen Artilleriebeschuss getötet worden sind, kündigen palästinensische Politiker Anschläge an. von michael borgstede, tel aviv

Die schrecklichen Bilder aus Beit Hanun im Gaza-Streifen waren nichts für Menschen mit schwachen Nerven. 19 Menschen wurden bei dem israelischen Angriff getötet, darunter acht Kinder. Eigentlich hatte die israelische Armee mit dem Artillerieangriff das Abfeuern von Raketen auf die Stadt Ashkelon verhindern wollen. Doch einige der abgefeuerten zwölf Granaten schlugen mehr als 500 Meter vom eigentlichen Ziel entfernt ein.

Der Bericht einer von Generalstabschef Dan Halutz eingesetzten Untersuchungskommission kam zu dem Schluss, dass ein technischer Defekt an einer Kanone die Katastrophe verursacht habe. Doch der Vorfall wirft weiterreichende Fragen auf. So rechnet die Armee bei Artilleriefeuer mit einer möglichen Kursabweichung von 200 bis 300 Metern. Ziele, die näher als 300 Meter an einem Wohngebiet liegen, dürfen deshalb nicht ins Visier genommen werden.

Eigentlich ist der Einsatz von Artillerie im dicht besiedelten Gaza-Streifen ohne Gefährdung der Zivilbevölkerung nämlich nicht möglich. Der neue Oberkommandierende der betroffenen Division, General Moshe Tamir, hat deshalb seit seinem Amtsantritt im August weitgehend auf den Einsatz von Artillerie verzichtet. Weil aber die Bodentruppen Beit Hanun bereits verlassen hatten und keine Kampfflugzeuge einsatzfähig waren, gab er am Mittwoch der vergangenen Woche dennoch den Feuerbefehl. Das war, wie die Zeitung Maariv titelte, »ein blutiger Fehler«. Auch die Konkurrenz von Jedioth Achronoth widmete der Tragödie ihren Aufmacher: »Olmert und Peretz: Es tut uns leid«, war dort zu lesen. Das wird an den möglichen politischen Auswirkungen aber nichts ändern.

Die palästinensischen Reaktionen fielen erwartungsgemäß wütend aus. Sowohl Angehörige der Hamas als auch Fatah-Führer forderten zu Anschlägen auf Israel auf. Jamal Obeid, ein ranghohes Mitglied der der Fatah nahe stehenden Al-Aqsa-Märtyrer­brigaden, sagte: »Es gilt: Blut für Blut. Wir müssen unsere Märtyrer rächen.« Chazi Hamad, ein Sprecher der Hamas im Gaza-Streifen und bisher eher für vergleichsweise gemäßigte Kommentare bekannt, forderte sogleich, Israel müs­se »von der Landkarte gewischt werden«. Der in Damaskus lebende Exilführer Khaled Meshal sagte, die Hamas müsse mit »Taten und nicht mit Worten reagieren«.

Weniger eindeutig äußerte sich Ministerpräsident Ismail Hanija: »Die Palästinenser werden niemals ihre Rechte aufgeben.« Dazu gehöre auch das Recht, den Widerstand gegen Israel fortzusetzen. Hanija hat gute Gründe für seine Zurückhaltung. Sollte es tatsächlich zu einem von der Hamas organisierten oder auch nur geduldeten Terroranschlag in Israel kommen, wird die israelische Regierung wohl jede Zurückhaltung aufgeben. Auch Führer des po­litischen Flügels wie Hanija würden dann wohl zu Zielen von Luftangriffen.

Zudem wollte Hanija sich möglicherweise die Möglichkeit zur Bildung einer gemeinsamen Regierung mit der Fatah-Partei von Präsident Mahmoud Abbas offenhalten. Der sprach sich gegen den Beschuss israelischer Städte mit Kassam-Raketen aus: »Sie geben Israel nur einen Vorwand, die Aggression gegen unser Volk fortzusetzen.«

Seit Wochen verhandelt die Hamas mit Abbas über die Bildung einer gemeinsamen Regierung. Durch eine Beteiligung der Fatah-Partei und eine zumindest indirekte Anerkennung Israels könne man die »internationale Gemeinschaft« dazu bewegen, ihre Hilfszahlungen wieder aufzunehmen, hofft die Hamas-Regierung in Ramallah. Wegen der Tragödie in Beit Hanun wurden die Gespräche zunächst ausgesetzt, doch nur zwei Tage später wurde – wenn auch nicht zum ersten Mal – der erfolgreiche Abschluss der Koalitionsverhandlungen gemeldet. Um den Finanzboykott zu beenden, sei Hanija sogar zum Rücktritt bereit, hieß es.