Erst in die Werkstatt, und dann?

Die Versorgung geistig behinderter Senioren in Deutschland ist schlecht. Aber das Familienministerium hat schon mal eine Studie in Auftrag gegeben. von anke schwarzer

Nur wenige Männer und Frauen mit geistiger Behinderung überlebten das Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten. Deshalb gab es lange Zeit in Deutschland kaum ältere Menschen mit Lernschwierigkeiten, epileptischen Anfällen, dem Down-Syndrom, autistischem Verhalten oder anderen Beeinträchtigungen.

Derzeit arbeiten rund 190 000 geistig behinderte Menschen in speziellen Werkstätten. In den kommenden zehn Jahren wird ein Drittel von ihnen das Rentenalter erreicht haben, schätzt die Bundesvereinigung Lebenshilfe. Doch die Gesellschaft und das Sozialsystem seien darauf nicht vorbereitet. »Was bieten wir diesen Menschen zur Gestaltung ihres dritten Lebensabschnittes an?« fragt Maren Müller-Erichsen, stellvertretende Bundesvorsitzende der 1958 gegründeten Organisation, die sich als Selbsthilfevereinigung und Fachverband für Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Familien versteht. In der Entwicklung notwendiger Hilfen für die Älteren unter ihnen seien andere Länder, in denen es keinen Massenmord an behinderten Kindern und Erwachsenen gegeben hat, Deutschland voraus.

Das im Jahr 1939 nach einem Geheimbefehl Hitlers eingeleitete Euthanasie-Programm sah die Tötung allen »lebensunwerten Lebens« vor. Euphemistisch war vom »Gnadentod« die Rede. Um die Opfer zu erfassen, gründete Hitlers Leibarzt Karl Brandt die Tarnorganisation »Reichsarbeits­gemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten«. Den Transport der Selektierten übernahm das SS-Unternehmen »Gemeinnützige Kran­kentransport GmbH«. In Tötungsstätten wie Schloss Grafeneck (Württemberg), Hadamar (Hessen), Sonnenstein (Sachsen) und Bernburg (Sachsen-Anhalt) sind allein zwischen 1939 und 1941 über 70 000 Menschen verhungert, wurden vergast oder vergiftet. Insgesamt ging die Anklage im Nürnberger Ärzte-Prozess von 275 000 Getöteten aus. Dazu kommen die Opfer von Sterilisationen, Zwangsabtreibungen, Menschenversuchen und KZ-Internierungen.

Von den geistig behinderten Menschen in Deutsch­land leben über 60 Prozent bei ihren Eltern, von denen manche bereits über 70 Jahre alt sind. »Ihre Eltern haben die Nazizeit und den Gedanken des ›Gnadentods‹ noch miterlebt«, sagt Müller-Erichsen. Sie hätten sich auch nach dem Krieg noch allzu oft von Ärzten und Angehörigen den Satz anhören müssen: »Die leben nicht so lange.« Zu den staatlichen Institutionen hätten sie daher wenig Vertrauen. Für ihre Söhne und Töchter, die bald selbst Senioren sein werden, müssten dringend Wohnangebote geschaffen werden, sagt Müller-Erichsen.

Zwar sieht das deutsche Sozialsystem einige Fördermaßnahmen für Menschen mit geistigen Einschränkungen vor. Die meisten – integrative Schulen und Kindergärten oder »Eingliederungshilfen« für die Arbeit in Werkstätten – zielen aber auf Kinder oder auf Menschen, die arbeiten. Ein Haus für geistig behinderte Senioren ist nicht vorgesehen. Dafür gibt es angeblich kein Geld. Zum großen Teil liegt das an den Förderstrukturen, die nicht auf diese wachsende Personengruppe abgestimmt sind. Für Werkstätten und Wohnanlagen für behinderte Menschen ist die Pflegeversicherung nicht zuständig. Zahlreiche Kommunen, die Träger der Behindertenhilfe, versuchen derzeit, ältere geistig behinderte Menschen in Pflegeheimen unterzubringen. Dort fehlt aber eine besondere Förderung und Betreuung. Altersdemenz bei geistig behinderten Menschen zu erkennen, ist nicht leicht. Mitarbeiter müssen geschult werden, ambulante und stationäre Dienste intensiver zusammenarbeiten. Dafür werde eine Milliarde Euro gebraucht, meint die Lebenshilfe.

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat mittlerweile eine Studie zu den »Perspektiven alternder Menschen mit schwerer Behinderung in der Familie« in Auftrag gegeben. Immerhin.