Es gibt viel zu tun

Demnächst übernimmt Deutschland die Ratspräsidentschaft in der EU. Ein halbes Jahr dürfte kaum reichen, um alle Pläne zu verwirklichen. von jörg kronauer

Mindestens 18 Monate muss das nächste Halbjahr dauern. Vom 1. Januar bis zum 30. Juni 2007 übernimmt Deutschland die Rats­präsidentschaft in der EU. Die Ziele, die die Bundesregierung in diesem Zeitraum verwirklichen will, sind so zahlreich und umfassend, dass sechs Monate beim besten Willen nicht ausreichen.

Der Außenminister will die Kooperation mit Russland und Zentralasien neu regeln, der Innenminister möchte die Abwehr von Flüchtlingen vereinheitlichen und verlangt europäische Maßnahmen zum Katastrophenschutz. Sämtliche Ressorts vom Verkehrs- über das Justiz- bis zum Landwirtschaftsministerium stellen Forderungen, wollen mehr Sicherheitsforschung, Korrekturen in der Stadtentwicklung und den Abschluss der Postdienste-Richtlinie. Kürzlich meldete überdies auch die Kanzlerin Angela Merkel ihre Wünsche an. Sie wolle mit einem europäischen Normenkontrollrat die Entbürokratisierung der EU beschleunigen, teilte sie der Süddeutschen Zeitung mit.

Die Einzelvorhaben, die Stück für Stück seit dem Sommer bekannt wurden, erweckten allmählich den Eindruck, der EU stehe ein heilloses Durcheinander bevor. Also legte die Bundesregierung ihre Prioritäten fest. Am 5. November einigte sich das Kabinett auf eine entsprechende programmatische Erklärung. Unter dem Titel »Gemeinsam gelingt Europa« werden dort eindeutige Schwerpunkte gesetzt. Die EU-Verfassung steht ganz oben auf der Agenda, es folgen die Energieversorgung und der Klimaschutz, die Migrationsabwehr und die Außen- und Militärpolitik. Das sind die Themen, die die politischen Auseinandersetzungen der kommenden Monate bestimmen dürften.

Die EU-Verfassung soll erst gegen Ende der deutschen Ratspräsidentschaft aus der Versenkung geholt werden. »Wesentliche Fragen wie die des Verfassungsvertrages werden eher nach den Wahlen in Frankreich zu entscheiden sein«, betonte Merkel in der vergangenen Woche in der Süddeutschen Zeitung. Vorher wird selbst Deutschland die französische Regierung nicht dazu bewegen können, öffentlich über das Dokument zu verhandeln. Schließlich hat ihm die französische Bevölkerung im vergangenen Jahr in einem Referendum eine eindeutige Absage erteilt. Nach der Ablehnung in Frankreich und in den Niederlanden ist es ohnehin ein skandalöses Vorhaben, den gescheiterten Entwurf nach wie vor durchsetzen zu wollen. Aber deutsche Thinktanks diskutieren seit geraumer Zeit darüber, wie sich dies am besten bewerkstelligen lässt. Die Stiftung Wissenschaft und Politik etwa hat vorgeschlagen, »nicht ratifizierungswilligen Staaten« einen »Klassenverweis« zu erteilen. Gemeint ist der Ausschluss aus der EU.

Am nächsten Schwerpunkt, der langfristigen Sicherung der Energieversorgung, arbeitet die Bundesregierung seit Beginn des Jahres gezielt. Die globale Konkurrenz um die abnehmenden Ressourcen verschärft sich. Zwei »Ener­gie­gipfel« haben in Berlin inzwischen stattgefunden, mehrere Arbeitsgruppen aus Politik und Wirtschaft sind mit dem Thema befasst.

Bevor die Bundesregierung im Herbst 2007 ihre »energiepolitische Gesamtstrategie« verkündet, soll geklärt werden, welche Aufgaben die EU bei der Rohstoffbeschaffung übernehmen kann. »Warum fahre ich in diesem Jahr nach Nordafrika, warum war ich auf der arabischen Halbinsel und in Zentralasien?« fragte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) kürzlich rhetorisch in der Frank­furter Allgemeinen Zeitung. Weil die dortigen Staaten über immense Rohstoffvorkommen verfügen, lautet die Antwort. Auf seiner Reise in die fünf ehemals sowjetischen Staaten zwischen Kaspischem Meer und China hatte Steinmeier die Pläne für die neue Zentral­asien-Strategie der EU dabei, die unter deutschem EU-Vorsitz verwirklicht werden soll.

Der Sicherung der Ressourcen dienen zwei weitere Schwerpunkte der deutschen Ratspräsidentschaft: die engere Kooperation mit Russland, das die größten Erdgasreserven der Welt besitzt, und mit Afrika, das nicht nur über Öl, sondern auch über zahlreiche weitere von der Industrie benötigte Rohstoffe verfügt. Als neuer Rivale der bisher in Afrika miteinander konkurrierenden westlichen Staaten gilt die Volksrepublik China, die Anfang November eine Art »strategische Partnerschaft« mit 48 afrikanischen Staaten geschlossen hat.

Dabei geht es auch um Kredite in Milliardenhöhe, die die chinesische Regierung den armen Ländern zusagte. Eher drittklassig schneidet im Vergleich damit der Afrika-Gipfel ab, den die deutsche Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul für das kommende Frühjahr angekündigt hat. Die EU soll dabei Verstärkung bieten. Ob das gelingt, ist freilich ungewiss: Wenn es um die ehemaligen Kolonien geht, ist die Konkurrenz zwischen den europäischen Mächten nach wie vor recht ausgeprägt.

Ein weiterer Schwerpunkt der deutschen Ratspräsidentschaft, der Klimaschutz, soll die deutsche Stellung in der westlichen Konkurrenz stärken. Vorbild dafür sind die erneuerbaren Energien. Die Branche boomt rund um den Globus, da die umweltfreundliche Stromgewinnung zugleich eine gewisse Unabhängigkeit von den umkämpften Rohstoffen Erdöl und Erdgas verheißt. Deutsche Unternehmen waren mit Windrädern und Solartechnologie früh dabei und sicherten sich im Jahr 2004 einen lukrativen Anteil am Weltmarkt von 17 Prozent.

Ähnliche Erfolge ließen sich etwa bei der Abgasvermeidung erzielen, meinte Bundeskanzlerin Merkel am 8. November vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Mit Blick auf die katastrophale Luftverschmutzung etwa in China sagte sie: »Diejenigen, die Umwelttechnologien haben«, würden »die Exportweltmeister der Zukunft sein«.

Damit der gegenwärtige »Exportweltmeister« den erwirtschafteten Reichtum nicht mit Eindringlingen teilen muss, nutzt Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) den deutschen EU-Vorsitz, um die Mauern um Europa weiter zu verfestigen. Neben der Gründung einer europäischen Asylbehörde will er den Ausbau der Grenzschutzagentur Frontex zum Schwerpunkt machen. Diese müsse »zukünftig die nationalen Grenzpolizeien so anleiten und koordinieren können, dass an allen unseren gemeinsamen Außengrenzen illegale Einreisen zur Ausnahme werden«, verkündete er kürzlich gemeinsam mit seinen Amtskollegen aus Portugal und Slowenien. Mit den beiden hat er ein einheitliches Programm für die Präsidentschaft ausgearbeitet, das nicht nur für den deutschen, sondern auch für den im Juli beginnenden portugiesischen und für den daran anschließenden slowenischen EU-Vorsitz gilt.

Eine solche »Dreierpräsidentschaft« soll auch in den anderen Ressorts realisiert werden. So bereitet die Bundesregierung mit der ehemaligen Kolonialmacht Portugal einen europäischen Afrika-Gipfel vor. Die »Dreierpräsidentschaft« hat Vorteile: Angesichts der nicht so ganz ausgewogenen Machtbalance zwischen Deutschland, Portugal und Slowenien verlängert sie die deutsche Amtsführung informell bis zum 30. Juni 2008. »Man kommt ein wenig weg von der Kurzatmigkeit von Sechs-Monate-Programmen«, freute sich Merkel vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Denn die Pläne für die deutsche Ratspräsidentschaft lassen sich bis zum 30. Juni kaum bewältigen. 18 Monate sind ein realistischer Zeitraum.