Morning in America

Die Demokraten haben die Kongresswahlen gewonnen. Unser Reporter david reed war auf ihrer Siegesfeier

7. November 2006, 8 Uhr

Bill Clinton hat angerufen. Bill Clinton! Ich kann nicht glauben, dass ich den Anruf verpasst habe! Aber netterweise hat er eine Nach­richt hinterlassen. Er möchte, dass ich für »das demokratische Ticket« stimme. Und für Martin O’Malley, der Gouverneur von Maryland werden will.

Ich bin derartig nervös wegen dieser Wahl, dass ich letzte Nacht kaum geschlafen habe. Also versuche ich, wieder zu Bett zu gehen, aber es ist nutzlos. Stehe auf, mache eine Liste der Storys, die ich schreiben will: Call-Center voller Freiwilliger, berühmte Leute beim Wählen, Heerscharen marschbereiter Rechtsanwälte … Doch ich schaffe es nicht, aus der Tür zu kommen, nicht einmal, um zu wählen.

Alle sagen, dass die Demokraten gewinnen werden. Mir gehen Erinnerungen an 2000 und 2004 durch den Kopf, und die Furcht vor der Niederlage lähmt mich. Außerdem stelle ich fest, dass es nur ein Bild gibt, das mich wirklich interessiert – demokratische Feierlichkeiten.

Krieche zurück ins Bett.

15 Uhr

Überwinde die Lähmung, gehe zu meinem Auto. Auf der Fahrt zum Wahllokal frage ich mich, wie viel die Wahlen zur globalen Erwär­mung beitragen. Vielleicht erweisen die Nicht­wähler uns allen einen Dienst, indem sie etwas für die Umwelt tun. Ach je, so viel zu jenem verschwommenen, warmen Gefühl, meinen Bürgerpflichten nachzukommen. Immerhin, wenn der halbe Liter Sprit, den ich dabei verbrauche, wählen zu zu fahren, unserem Planeten den Rest gibt, kann ich Bill Clinton dafür verantwort­lich machen.

Fotografiere vor dem Wahllokal ein Schild, das Wahlwerbung verbietet (#1). Stimme für O’Malley. Im Wahllokal fällt mir ein, dass ich Bilder machen sollte, aber Barbara, die die Verantwortung trägt, wirkt beängstigt, als ich sie um Erlaubnis frage. Sie erinnert sich, dass ich schon vor zwei Jahren hier war. Einen guten Eindruck habe ich wohl nicht hinter­lassen. Ich fotografiere meine Stimm­abgabe, falls Clinton einen Beweis will, und beschließe, die Dokumentation des Wahllokals auf ein anderes Mal zu verschieben. Barbara scheint erleichtert, dass ich gehe.

17.30 Uhr

Wo ich schon einen halben Liter Sprit für die Wahl verschwendet habe, kann ich noch zehn Liter mehr verbrennen. Das Schwierige dabei ist: Wenn alles gut ausgeht, möchte ich bei den Feiern der Democratic Congressional Campaign Committee dabei sein. Sonst gehe ich lieber ins Bett. Aber nicht einmal Karl Rove, der wichtigste Wahl­kampf­berater von George W. Bush, weiß, was die heutige Nacht bringen wird. Schlage meine Bedenken (und das Benzin) in den Wind. Fahre nach Washington DC.

Ich wollte Bilder vom Weißen Haus und vom Capitol machen. Aber es reg­net, und ich habe meinen Regenschirm vergessen. Fahre herum auf der Suche nach Demokraten. Vor dem Obersten Gerichtshof sind ein paar Leute unter­wegs. Vielleicht Abtreibungsgegner? Es herauszufinden, ist es nicht wert, nass zu werden.

Rufe Rich an. Er denkt, ich sollte zu einer Veranstaltung der Republikaner gehen und traurige Republikaner foto­grafieren. Aber heute Nacht will ich nur ein Bild und fahre zum Hyatt Hotel, auf der Suche nach glücklichen Demokraten.

21.00 Uhr

Es ist noch zu früh, als dass irgendjemand glücklich sein könnte. Also bediene ich mich an den Sandwiches und Chips, die auf­merksamerweise für die Medien bereitgestellt werden. Ich setze mich neben einen Reporter des Independent. Er sagt, dass ich viel Glück habe, weil meine Dead­line später sei als seine, und dass ich genug Zeit haben werde, darüber zu schreiben.

Missouri sieht schlecht aus, wird aber allmählich besser. Ebenso Virginia. Einige Par­tei­berühmtheiten der B-Kategorie unterbrechen die »B-Street Band« (klingt wie »E-Street«, wie in Bruce Springsteen and The E-Street Band), um Ansprachen zu halten und die Leute aufzumuntern. Die Leute in der ersten Reihe brauchen jedoch keine Aufmunterung, und jedes Mal, wenn die De­mokraten auf dem großen Bildschirm in dem einen oder anderen Rennen vorne liegen, kommt Jubel auf (#2). Ich fühle mich wie bei einem Sportereignis. Während die Band wieder auf der Seitenbühne spielt, nut­ze ich die Gelegenheit, auf die Hauptbühne zu gehen, und eine Nahaufnahme von den Fahnen zu machen, die bald in historischen Bildern erscheinen werden (#3).

Und natürlich ist das hier kein Sport­ereignis. Bei einem Sportereignis trägt normalerweise niemand Anzug und Kra­watte. Außerdem sind hier, glaube ich, Bier und Wein umsonnst. Ich würde auch gerne etwas trinken, aber die Warte­schlange geht über den halben Flur.

Das wäre nicht so schlimm, aber ich möchte nicht irgendeine Feier der Demo­kraten fotografieren. Ich warte auf den Moment, in dem klar wird, dass die De­mokraten das Repräsentantenhaus über­nehmen. Oder den Senat. Wenn dies ge­schieht, möchte ich nicht in der Schlange stehen. Ich meine, falls dies geschieht. Ich erhalte meine Hoffnungen aufrecht und möchte nicht am Boden zerstört enden wie 2000 und 2004 (Jungle World, 50/00 und 47/04).

23.00 Uhr

Irgendwann beginnen die Fotografen, sich um das Pult zu versammeln. Dann kommt der Moment, auf den wir alle gewartet haben: Eine Prognose im Fern­sehen verkündet, dass die Demokraten die Mehrheit im Repräsentantenhaus haben werden. Ich muss zugeben, dass ich während der Fußball-Weltmeis­terschaft nicht im Stadion war (Jungle World, 29/06) und dass ich also keinen Vergleich habe, aber die Reaktionen sind heftiger als, nun ja, als alles, an das ich mich erinnern kann. Die Leute schreien. Sie hüpfen, winken, umarmen sich. Ich versuche, ein Foto zu machen, greife aber zu meiner Video­kame­ra. Ich möchte diese Schreie für die Ewigkeit festhalten.

Als sich die Dinge beruhigen, tippt mir jemand auf die Schulter. Vielleicht, weil ich der einzige ohne schicke Digitalkamera bin. Vielleicht hat mich auch jemand dabei beobachtet, wie ich in diesem Bereich, der ein Nur-für-Foto­grafen-Bereich zu sein scheint, nach meiner al­ten, billigen Videokamera gegriffen habe. Eine Fotoreporterin und selbst ernannte Polizistin informiert mich darüber, dass dieser Bereich nur für akkreditierte Journalisten ist. Ich ziehe einen Akkreditierungsausweis aus der Tasche, die Tipperin murmelt etwas über sicht­bares Tragen meines Passes und stelzt davon. Sie hat natürlich Recht. Aber ist es meine Schuld, dass die Demokraten kein Band haben, mit dem ich mir den Ausweis umhängen kann?

Ein paar repräsentable Anhänger der Partei mit unterschiedlicher Hautfarbe, Handtaschen­farbe und Kopfbedeckung werden auf die Büh­ne gebracht, um die offizielle Ankündigung zu bejubeln. Ich möchte keinen der Sprecher verpassen, aber es stellt sich heraus, dass genug Zeit ist, um die multikulturelle Vor­stel­lung zu fotografieren (#4). Schließlich kommt die A-Kategorie für eine Ehrenrunde heraus, und alle sind wie eine große Familie (#5). Ich bekomme ein paar Fotos für meine Sammlung von Schuhen berühmter Leute (#6). Damit nicht genug, hat eines der VIP-Kids, das am Ende auf die Bühne kommt, viele Nummern auf seinen Arm geschrieben, und ich bekomme ein schönes Foto für meine Nummernsamm­lung (#7).

Was könnte es Besseres geben? Nicht viel. Die meisten Journalisten beginnen einzupacken, und die Besucher wechseln sich damit ab, hinter einem Schild mit der Aufschrift »A New Direction for America« zu posieren (#8). Ich selbst gehe auch mal auf die Bühne (ehrlich gesagt, ein paar Mal), und wo ich schon mal da bin, sammle ich ein bisschen rot-weiß-blaues Konfetti, auf das vielleicht Nancy Pelosi getreten ist, die die erste Sprecherin des Repräsentantenhauses werden wird (#9).

Warte, bis ich ans Rednerpult komme. Dabei entdecke ich das Geheimnis, wie man Flaggen so fotogen bekommt: Man braucht nur Gaffer-Tape und einen Kleiderbügel (#10). Den Kleiderbügel am Flaggenmast befestigen, die Fahne darüber spannen, und sie glatt ziehen, falls die Leute, die sich davor stellen, besonders amerikanisch aussehen sollen. Schnappe mir einen Klei­derbügel (#11) und etwas Gaffer-Tape, renne zurück zum Pressesaal und packe meine historischen Souvenirs ein.

8. November 2006, 2 Uhr

Ich weiß, was noch besser sein könnte: Die Demokraten könnten die Mehr­heit im Senat bekommen. Auf einmal steht Senator Chuck Schumer, der den Wahlkampf der Demokraten für den Senat geleitet hat, in der Pres­se­ecke, wo er in aller Ruhe vor einigen übrig gebliebenen Reportern ein Statement abgibt (#12). Es stehe nun fest, dass die Demokraten in Vir­ginia und Montana die Führung behauptet hätten und im Senat eine Mehr­heit von 51:49 haben würden. Er beantwortet noch ein paar Fragen und verschwindet durch einen Kellerkorridor des Hyatt. Das war’s. Keine Musik, kein Jubel, kein Springen.

Ich kann kaum glauben, was ich gehört habe, aber ich habe es doch gehört: Die Demokraten haben alles gewonnen! Fotografiere noch einmal die historische Bühne (#13) und sammle Überreste der Feier (#14, # 15, #16). Finde unter anderem einen Presseaus­weis mit Umhängeband (#17). Hätte ich das nur früher gehabt! Schaufle eine Tüte mit Konfetti zusammen, die ich sicherheitshalber nicht zum Rest packe (dass darauf jemand Berühmtes getreten ist, ist eher unwahrschein­lich). Filme die Putzkolonne. Einschließlich exklusiver Videoaufnahmen von einem Typen auf einer Hebebühne, der über­schüssiges Konfetti aus einer großen Decken­leuchte bläst.

Um 5 Uhr bin ich der letzte Journalist, der geht. Der Kerl, der dafür zuständig ist, die riesige Flagge zusammenzufalten, zeigt seinem Assistenten, wie es zu machen ist. Er bemerkt, dass ich ihn dabei erwische, wie er sie auf den Boden legt. Allerdings sieht er auch, dass ich meine Videokamera bereits weggepackt habe. Also fährt er mit seinem Unterfangen fort.

Zum Glück gibt es viele herrenlose Regen­schirme. Ich nehme einen, der vor dem ehe­maligen VIP-Bereich liegt und gehe zurück zum Auto. Setze mich auf den Fahrersitz, schließe die Tür. Esse und trinke die Souvenirs, die die Journalisten zurückgelassen haben.

7 Uhr

Komme zu Hause an. Als ich meine Schuhe ausziehe, merke ich, dass ich ein weiteres historisches Souvenir mitgebracht habe: ein Stück grünes Klebeband (#18). Wenn ich nur wüsste, inwiefern es historisch ist! Darüber muss ich ein andermal nachdenken. Jetzt muss ich unbedingt schla­fen.

13 Uhr

Bush gibt eine Pressekonferenz. Donald Rumsfeld tritt zurück (Wow!) Bush sagt, dass die Leute gesprochen haben, dass die »Botschaft« klar ist, (die Poliker sollen zusammenarbeiten), und dass die »Feinde« keinen Grund haben, sich zu freuen. Er sieht nicht so großtuerisch aus wie sonst, und das ist schön anzusehen.

14.30 Uhr

Beim Dozententreffen in der Fakultät spielt jemand »Die Hexe ist tot« aus dem Film »Der Zauberer von Oz« auf dem Laptop. Zunächst verstehe ich nicht, warum die Leute applaudieren. Aber Rachel stellt für mich die Verbindung her, und plötzlich scheint es die perfekte Metapher für die Ereignisse des vorigen Tages zu sein. Nach dem Treffen gehe ich als glücklicher Demokrat in den Unterricht. Wenn ich bloß eine Kamera hätte…

Aus dem Amerikanischen von Martin Schuster

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