Von der Wiege bis zur Rente

Soziale Themen bestimmen den Wahlkampf in den Niederlanden. Obwohl im Sommer die Regierungskoalition an der Affäre um Hirsi Ali zerbrach, wird über das Thema Integration kaum noch diskutiert. von tobias müller, amsterdam

Allmählich gewöhnen sich die Niederländer an Neuwahlen. Am kommenden Mittwoch werden sie zum dritten Mal innerhalb von fünf Jahren zur Stimmabgabe gebeten. Vier Regierungen sind in dieser Zeit abgetreten, zahlreiche politische Krisen zogen personelle Konsequenzen nach sich. Eine davon führte im Sommer zum erneuten Regierungsrücktritt. Im Zuge der »Pass-Affäre« um die Abgeordnete Ayaan Hirsi Ali von der rechtsliberalen Volkspartei (VVD) kündigten die Linksliberalen von der D66, die Mehrheitsbeschaffer der damaligen Mitte-Rechts-Koalition, der Ministerin für Einwanderung und Integration, Rita Verdonk, das Vertrauen auf (Jungle World, 36/06).

Mit dem Entzug der Staatsangehörigkeit ihrer Parteikollegin wegen falscher Angaben in deren Asylantrag wollte Rita Verdonk einen Präzedenzfall schaffen, um die Ausländergesetzgebung künftig noch rigoroser anwenden zu können. Heftige Proteste innerhalb sowie außerhalb des Parlaments verhinderten dies in letzter Minute. Vor diesem Hintergrund und im Gegensatz zu den Auseinandersetzungen der letzten Jahre lässt sich die auffällige Abwesenheit des Themas Integration im Wahlkampf konstatieren.

Stattdessen finden sich überwiegend soziale Themen auf der Agenda der meisten Parteien. Im Mittelpunkt der Debatten standen in den letzten Monaten die Frage nach kostenloser Kinderbetreuung, das Renteneintrittsalter und die Kostenbeteiligung wohlhabender Rentner. Auch über eine Einschränkung des Kündigungsschutzes sowie über Steuervorteile für Immobilienbesitzer wird nach wie vor geredet.

Christ- und Sozialdemokraten liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen, das in den letzten Wochen erheblich personalisiert wurde. Mitt­lerweile hat sich in der Wahrnehmung vieler Menschen alles auf die Frage reduziert: Wer wird der nächste Premierminister? Der oft ungeschickt wirkende Amtsinhaber, der Christdemokrat Jan-Peter Balkenende (CDA), der jedoch einen Skandal nach dem anderen unbeschadet übersteht, oder sein medienwirksamer sozialdemokratischer Herausforderer Wouter Bos, der seine Partei PvdA nach dem Fiasko 2002 in Rekordzeit wieder auf Kurs gebracht hat?

Im Frühjahr schien diese Frage bereits beantwortet. Nach ihrem triumphalen Erfolg bei den Kommunalwahlen in März lag die PvdA in den Umfragen mit knapp 40 Prozent auf dem höchsten Stand seit 20 Jahren und hätte zu diesem Zeitpunkt mehr Sitze bekommen als die CDA und ihr Koalitionspartner VVD zusammen.

Über den Sommer aber glichen sich die Werte immer mehr an. Vor allem die Pläne, den steuerlichen Abzug von Hypothekenzinsen zu begrenzen und die Empfänger hoher Pensionen an der Finanzierung des Rentensystems zu beteiligen, brachte den Sozialdemokraten Kritik ein. Ungeachtet der seit Balkenendes Antritt 2002 gestiegenen Arbeitslosenzahlen ist es vor allem die gute wirtschaftliche Entwicklung, die der CDA zum Herbst einen geringen Vorsprung beschert hat. Seither verkünden Balkenende und der Fraktionsvorsitzende Maxime Verhagen ihre simple, optimistische Botschaft: Kopf hoch, die CDA bringt das Land voran.

Die Sozialdemokraten besinnen sich dagegen auf ihre alten Themen wie Chancengleichheit, Integration und Bildung. In Wahlkampfreden und beim »Fernsehduell« griff Bos die CDA an, wetterte gegen das »verseuchte Klima in unserem Land« und eine Regierungspolitik, die die soziale Kluft vergrößert habe. Zu den Gegensätzen, die er, »wenn nötig, auch mit harter Hand«, einzuebnen gedenke, zählte er ausdrücklich auch den zwischen den »Autochtonen« und den »Allochtonen«, wie in den Niederlanden alle Menschen genannt werden, die sich unabhängig von ihrem Pass optisch vom weißen Holländer unterscheiden. Auch stellt der Sozialdemokrat eine Legalisierung für alle seit fünf Jahren im Land befindlichen Asylbewerber in Aussicht.

Der Strategiewechsel des ehemaligen Managers von Shell zeigt ein deutliches Kalkül. Offenbar wollen sich die Sozialdemokraten kurz vor dem Wahltag ein linkes Image geben, um Wähler zu gewinnen. Bislang stellte sich vor allem die Sozialistische Partei unter ihrem Dauervorsitzenden Jan Marijnissen den Sparprogrammen und der christdemokratischen Steuerpolitik, die Großverdiener bevorzugt, entgegen. Erfolgreich übrigens, denn Umfragen zufolge kann sie ihr Ergebnis von 2003 (sechs Prozent) beinahe verdoppeln, und die Kommunalwahlen brachten ihr starke Gewinne. In einer möglichen linken Regierungskoalition gilt sie als gesetzt, seit sie die Grünen in der Wählergunst hinter sich zu lassen scheint. Allerdings lässt sich die PvdA trotz steigenden Drucks ihrer potenziellen Partner bisher zu keiner Koalitionsaussage bewegen.

Dies gilt auf der anderen Seite auch für die CDA, der seit Wochen die VVD in Gestalt ihres Spitzen­kandidaten Mark Rutte in den Ohren liegt. Unter den großen Parteien wirbt sie mit der ansehnlichsten unsozialen Agenda, angefangen bei der Einschränkung des Kündigungsschutzes bis hin zur totalen Liberalisierung des Wohnungsmarktes, härteren Strafen und weniger Zuwanderung, allein ihr fehlt ein Spitzenkandidat, der dieses Programm verkörpert.

Rutte hatte sich im Sommer gegen Rita Verdonk durchgesetzt, die große Teile der Basis bevorzugt hätten. Doch, und dies ist eine der auffälligsten Entwicklungen dieses Wahlkampfs, Verdonk schweigt. Die Themen der extrem polarisierenden Integrationsministerin sind bislang kaum präsent. Die Forderungen nach der Assimilation von Migranten sind plötzlich aus den Schlagzeilen verschwunden, einzig das Thema Islam, auf das der Bereich Integration zuletzt gemeinhin reduziert wurde, kommt gelegentlich auf. Doch selbst die jüngste Auseinandersetzung um türkischstämmige Kandidaten, die wegen ihrer Haltung zum Genozid an den Armeniern von den Wahllisten gestrichen wurden (Jungle World 42/06), eskalierte nicht mitten im Wahlkampf .

Passend dazu sind die politischen Nachlassverwalter Pim Fortuyns vollkommen in der Marginalität verschwunden. Noch im Spätsommer hatten sich einer Umfrage zufolge 20 Prozent der Befragten vorstellen können, eine der vier rechten Parteien zu wählen. Seitdem konkurrieren sie so miteinander, dass es keine von ihnen auf mehr als anderthalb Prozent bringen dürfte. Einmal setzte der rechte Populist Geert Wilders wie üblich an und dämonisierte die bevorstehende Einwanderung von Muslimen als »Tsunami«. Ansonsten blieb es still unter den Streitern gegen den »Ausverkauf der Niederlande an die EU«, die entfremdete Elite aus Den Haag, Immigration und Geschwindigkeitsbegrenzung.

Allerdings haben sämtliche Parteien den Rechten inhaltliche Zugeständnisse gemacht. Auch in Zeiten neuer Nüchternheit regiert in den Niederlanden niemand mehr an der Agenda von »nationaler Identität« und Sicherheit vorbei.