Heul doch!

Eine Meditation von George Steiner von martin janz

Abstrahiert man für einen Augenblick – vielleicht sogar für die Zeit, die man benötigt für die Lektüre des sehr schön aufgemachten Bändchens mit dem noch schöneren Titel »Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe« – von all dem, was man zur Kritik des deutschen Idealismus und der Philosophie überhaupt einmal gelernt hat und hinter das es eigentlich kein Zurück geben sollte, obgleich man immer wieder eines Besseren belehrt wird, und lässt sich, aus welchem Grund auch immer, auf die irgendwo zwischen Essay, Traktat und Manifest angesiedelte Meditation George Steiners über den »dunklen Grund« des Denkens und damit der menschlichen Existenz, der Traurigkeit, ein, dann kann man diesem »metaphysischen Gedicht« auch etwas abgewinnen.

Gerade im Herbst, wo schon jahreszeitlich bedingt sich eine melancholische Grundstimmung ausbreitet, stiften Steiners Variationen auf ein Thema von Schelling, demzufolge »alle Persönlichkeit … auf einem dunklen Grund (ruht), der allerdings auch Grund der Erkenntnis sein muss«, immerhin eines: Trost.

Die Beweisführung, dass Denken zu nichts führt, schon gar nicht zu Freude, sondern notwendig traurig macht, ist mehr als ein kulturpessimistischer Einwurf gegen die postmoderne Spaßgesellschaft. Steiner leitet die »tiefe unzerstörliche Melancholie allen Lebens« (Schelling) nicht nur aus den inneren Widersprüchen des Denkens ab, z. B. aus dessen »unvollständiger Unendlichkeit«, sondern auch aus der prinzipiellen Einsamkeit, die Denken hervorruft.

Niemals kann man sicher sein, was der andere wirklich denkt, niemals lässt sich das, was man selbst denkt, in Worte fassen und wirklich mitteilen. Auch dann nicht, wenn man sich besonders nah wähnt. Bereits die Doppeldeutigkeit des Wortes Liebesakt verweist darauf, dass während der innigsten Verschmelzung Liebende immer auch Akteure sind und sich letztlich immer fremd bleiben. »Die intensivste Liebe ist eine nie abgeschlossene Unterhaltung Einsamer.«

Traurig stimmt Steiner auch die Einsicht, dass wir trotz »tiefschürfendsten epistemologischen oder neurophysiologischen Erkundungen« nie wissen können, was Denken in Wirklichkeit ist. Deshalb sieht er in der Gleichsetzung von Denken und Sein des Parmenides »zugleich Quell und Grenze der westlichen Philosophie«. Das scheint konsequent. Nur: Jede Grenze verweist auf ein Dahinter, die des Denkens auf Nicht-Denken, oder, mit Adorno gesprochen, auf Nicht­identisches. Aber auf diesen Gedanken möchte sich Steiner nicht einlassen.

Weil Menschen zwar kurz den Atem anhalten, niemals aber aufhören können zu denken, ist bei ihm von vornherein alles Denken, und alles Denken Traurigkeit. Nur unter dieser idealistischen Voraussetzung lässt sich romantische »Gedankenmusik« komponieren, die zwar schön klingt, aber doch nur ein Mosaiksteinchen der einmal als überwunden geglaubten Deutschen Ideologie darstellt.

Dass sie sich als resistent erweist, ist zwar nicht die unmittelbare Folge von Texten wie diesem. Er trägt aber auch nichts zu deren Überwindung bei. Doch das ist ein anderes Thema, eines, das die eingangs vollzogene Abstraktion nicht zulassen würde. Aber man hört ja gelegentlich auch gerne mal Popmusik oder schaut sich ein Fußballspiel an.

George Steiner: Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2006, 90 S., 14,80 Euro