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Roberto Saviano und Nanni Balestrini über die neapolitanische Camorra. von catrin dingler

Bandenkrieg in der Altstadt, Schusswechsel auf offener Straße, Kampf um Europas größten Drogenmarkt – die aktuellen Schlagzeilen aus Neapel klingen wie Überschriften zu weiteren Kapiteln aus Roberto Savianos Buch »Gomorra«.

Seine Reportage über das Imperium der nea­politanischen Camorra ist in Italien der Bestseller des Jahres. Allerdings wird das Buch zu Unrecht als großartiges literarisches Erstlingswerk gelobt. Saviano ist ein junger Journalist, der viel recherchiert, genau beobachtet und sein Material fleißig zusammengetragen hat. So ist ein umfassendes Bild von o’sistema, der organisierten Kriminalität der letzten Jahre, entstanden. Namen und Schauplätze des Anfang November ausgebrochenen gewalttätigen Konkurrenzkampfs zwischen den verschiedenen Clans der Stadt sind einem nach der Lektüre des Buches bestens vertraut.

Saviano kommt aus Casal di Principe, er könnte der jüngere Bruder, ein Cousin oder ein entfernter Verwandter des jungen Mannes sein, der in Nanni Balestrinis neuem Roman »Sandokan« die Anfänge und den Aufstieg eines Camorra-Clans erzählt. Der Roman ist in der Übersetzung von Max Henninger nun im Verlag Assoziation A erschienen, in dem in den letzten Jahren auch Balestrinis Bücher zur Geschichte der italienischen Linken neu aufgelegt wurden.

Genau wie in der Romantrilogie über den »Kampfzyklus 1969–1977« lässt der Autor auch in dieser Camorra-Geschichte einen anonymen Ich-Erzähler ohne Punkt und Komma drauflosreden. Er fängt an, aus seinem Kaff zu erzählen, dessen Name auf dem Ortsschild nicht mehr zu lesen ist: »in Orten wie meinem ist die übliche Tafel mit der Aufschrift Willkommen in von Pistolen und Gewehren durchlöchert was bedeutet dass es sich um ein kontrolliertes Gebiet handelt wer sich da rein begibt muss wissen welchen Risiken er sich aussetzt«.

Immerhin erfährt man, dass die Hauptstraße, der Corso Umberto, auf die Landstraße nach Casal di Principe führt, die Geschichte ereignet sich also im Casertano, nordöstlich von Neapel. Der Obst- und Gemüseanbau prägt seit jeher die Gegend. Auch nach der Landre­form wird die gesamte Provinz von den großen Landbesitzern kontrolliert, die die Kleinbauern in feudaler Abhängigkeit halten. Aber auch als Maurer und Tagelöhner findet man kaum sein Auskommen. »bei uns gibt es nichts aber auch wirklich gar nichts es fehlt an allem es gibt kein Kino kein Theater keine Bibliothek keinen Park keine anständige Schule«. Man kann nur auf dem Corso und auf dem kleinen Platz vor der Kirche rumstehen oder in der »Bar Centrale« Toto spielen.

Balestrini lässt seinen Protagonisten in lapidarem Ton ein typisches Bild des italienischen Südens, des hoffnungslos zurückgebliebenen Mezzogiorno, skizzieren, wie man es aus den ersten Kapiteln seines Fiat-Romans »Wir wollen alles« bereits kennt. Doch die »Hungersöhne« aus dem Dorf, die dem Schicksal ihrer Väter entkommen wollen, fahren diesmal nicht in die Fabriken nach Mailand oder Turin, sondern folgen dem Beispiel der in Neapel bereits gut organisierten Camorra. »Sie sind stark und entschlossen und also kommen sie zusammen«.

Die Jungs sind keine romantischen Sozialrevolutionäre, keine wagemutigen Briganten, wie es sie in der Gegend noch bis zum Anfang des vergangenen Jahrhunderts gab. Sie schließen sich zusammen, um den gegnerischen Clan auszuschalten und selbst die Macht zu übernehmen. Auf dem Zenit der Macht angelangt, beginnen die inneren Machtkämpfe: »jeder von ihnen« will an die Spitze, »jeder von ihnen« will der Boss sein, und der Boss »will das Maximum er will alles«.

In diesem Selbstzitat markiert der Austausch des Pronomens den entscheidenden Unterschied: Es gibt keinen gemeinsamen Kampf, keine kollektive Emanzipation. Während die süditalienischen Fiatarbeiter mit ihren Kämpfen die Verhältnisse zum Tanzen bringen wollten, legen die im Dorf zurückgebliebenen »Niemandsöhne« die Melodie ihres »Scheißlebens« in einer brutaleren Variation noch einmal auf. Der Clan ist eine streng hierarchisch gegliederte »Organisation«, die Aufstiegs­chancen bietet. Wer Glück hat und kaltblütig genug ist, kann ein sagenumwobener Held werden, ein »Sandokan«. Innerhalb weniger Jahre gelingt »der große Sprung«: Aus der casertanischen Camorra wird ein internationales Wirtschafts­imperium.

Jetzt kommt der Junge richtig ins Reden. Man erfährt von kleinen, alltäglichen Schikanen, von großangelegten Betrügereien, von korrupten Beamten an Ort und Stelle, von den Parteien, die alle irgendwie mit dem Clan verfilzt sind. Die mittleren Kapitel des Buches sind kleine Meisterstücke. In der Dorfchronik spiegelt sich italienische Zeitgeschichte, im Aufstieg des Clans der Zusammenbruch Osteuropas, das Ende des Kalten Kriegs.

Im Dorf kennt jeder jeden, und »wenn hier einer in die Organisation eintritt dann erfährst du das nicht nach einem Monat du erfährst es sofort«. Alle wissen Bescheid, und die meisten sind irgendwie mit dabei. Wer zu keiner Camorra-Familie gehört, ist »praktisch allein«, »völlig allein«, so wie der Ich-Erzähler, der ist »dauernd allein«. Die Isolation des Erzählers bestimmt den Sprachrhythmus. Es gibt keine emotionalen, mitreißenden Wortkaskaden, sondern lange, wütend-resignierte Monologe und verzweifelte Versuche, über eine »unendliche Kette von Verbrechen« zu sprechen.

Manchmal misslingt der Versuch. Der Junge wird sich selbst fremd, er spricht dann von sich in der dritten Person, als gehörte der mörderische Konkurrenzkampf der Camorra nicht zu seinem Alltag. Trotz fehlender Interpunktion verliert die Sprache in diesen Kapiteln jede Lebendigkeit, die Sätze werden stereotyp, es ist, als würde er aus der Zeitung vorlesen. Der Junge findet schließlich seine eigene Stimme wieder und bringt ohne rhetorische Ausflüchte seine Erzählung zu Ende. Ein Ende voller Ekel und Schrecken.

Manche mag überraschen, dass Bales­trini die Geschichte nicht von einem »Muschilli«, einem der jungen Mitglieder der Camorra, erzählen lässt und stattdessen seine Stimme einem einsamen Antihelden leiht, der »nur Schlimmes über sie sagen kann«. Andere mögen enttäuscht sein, dass der Autor sich politisch zurückhält, nicht zum Kampf aufruft, sondern im Gegenteil die Hilflosigkeit jeder politischen Initiative an Ort und Stelle vorführt. Doch gerade weil die üblichen cineastischen Camorra-Fantasien und jede falsche Hoffnung auf die große Revolte unerfüllt bleiben, ist das schmale Bändchen lesenswert. Balestrini ist ein eindringliches und sehr realistisches Porträt gelungen.

Wie realistisch es ist, das bezeugt das jähe Ende von Roberto Savianos Erfolgsgeschichte. Er kann sich, nachdem er öffentlich Namen, die im Casertano jeder kennt, ausgesprochen hat, in Casal di Principe nicht mehr blicken lassen. Zwar gab er am Donnerstag voriger Woche nach mehreren Wochen des Stillschweigens erstmals wieder ein Interview, doch steht er weiterhin unter Personenschutz, sein Aufenthaltsort wird geheim gehalten. Solidaritätsbekundungen finden fast ausschließlich virtuell statt, in den Weiten des Internet.

Nanni Balestrini: Sandokan. Eine Camorra-Geschichte. Assoziation A, Berlin 2006. 144 S., 13 Euro

Roberto Saviano: Gomorra. Viaggio nell’impero economico e nel sogno di dominio della camorra. Mondadori, Milano 2006. 336 S., 15,50 Euro