Gulasch rot-braun

Die Demonstrationen der vergangenen Monate haben in Ungarn die Rechtsextremen und Antisemiten gestärkt. An den Protesten beteiligten sich aber auch Linke. von karl pfeifer, budapest

Die ungarische Gesellschaft war seit Jahrzehnten nicht mit derartigen rechtsextremistischen Phänomenen konfrontiert wie derzeit. Zwar kam es während der letzten 16 Jahre vor, dass Redner und Teilnehmer von Demonstrationen antisemitische Parolen skandierten, doch solche Demonstrationen hatten bisher nur wenig Zuspruch. Mittlerweile aber hat sich die Lage geändert.

Seit 2002 regiert eine Koalition aus Sozialdemokra­ten (MSZP) und Liberalen (SZDSZ). Der sozialdemo­kratische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány hielt im September eine Rede vor Funktionären und gab unumwunden zu, dass seine Partei Wahlversprechun­gen gemacht habe, die nicht haltbar seien. Er spielte damit auf das Geständnis eines Radiojournalisten an, der während des Aufstands im Oktober 1956 zugab, das Radio habe »Tag und Nacht« gelogen. Gyurcsánys Rede wurde den Medien zugespielt, und die große Oppositionspartei, Fidesz, die sich von einer liberalen antiklerikalen Partei zu einer mit dem Klerikalismus kokettierenden Volkspartei entwickelt hat, benutzte dies als Vorwand, um erneut – wie nach der verlorenen Parlamentswahl im April – Demonstratio­nen zu organisieren.

Noch im März erklärte Zoltan Pokorni, stellvertretender Vorsitzender der Fidesz: »Wie die deutschen, französischen, niederländischen und der anderen christdemokratischen, konservativen Parteien lehnt auch die Fidesz jede Form des Antisemi­tismus entschieden ab.« Einige Gesten dieser Partei ließen hoffen, dass diese Erklärung ernst gemeint sei. Das war nicht immer so. Vor den Wah­len im Jahr 2002 hatte die Fidesz den radikalen rechten Wählern Zugeständnisse gemacht, die nicht den »westlichen Werten« entsprechen. Zu dieser Politik ist man nun zurückgekehrt.

Vier Fidesz-Abgeordnete nahmen an De­monstrationen teil, bei denen Árpád-Strei­fen-Fahnen geschwenkt wurden. ­Diese waren – mit dem Pfeilkreuz versehen – während der dunkelsten Periode der ungarischen Geschichte die Flaggen des ungarischen Nazipöbels. Alle Erklärungen, wonach doch dies die Fahne Ungarns bis zum Jahr 1301 war, können nicht verdecken, dass die Pfeilkreuzler Massenmörder waren.

Am 6. Oktober, nachdem Gyurcsány im Parlament die Vertrauensabstimmung gewonnen hatte, kam es zu einer Demons­tra­tion, bei der auch Viktor Orbán, der Vorsitzende der Fidesz, sprach. »Was fühlten Sie«, fragte ihn ein Fernsehjournalist, »als Sie Ihre Rede vor dem Parlament hiel­ten und sich gegenüber einer Masse von Fahnen mit dem Árpád-Streifen wiederfanden?« »Was hätte ich fühlen sollen?« ant­wortete Orbán und erklärte dann, dass diese Fahne gar nichts zu tun habe mit derjenigen der Pfeilkreuzler im Jahr 1944; diese Fahne sei vielmehr ein uraltes ungarisches Symbol und als solche nicht verboten. In Ungarn sind Pfeilkreuz und fünfzackiger roter Stern als Sym­bole von Diktaturen verboten. Tatsache ist aber auch, dass die Fahne mit dem Pfeilkreuz bereits vor Jahren geschwungen wurde, als ein faschistischer Pöbel den ehemaligen Staatspräsidenten Árpád Göncz am Reden hinderte, und dass diejenigen, die diese Fahne trugen, zumeist Skinheads und andere sattsam bekannte Rechtsextremisten waren.

Orbán hat bei einer Brüsseler Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung im November wiederholt, was er zuvor in Strasbourg sagte: dass die EU denjenigen Regierungen keine Hilfe geben sollte, die nicht mit der moralischen Erbschaft des Kommunismus brechen. In Brüssel ging Orbán noch wei­ter, als er ausführte, dass in Mitteleuropa nicht der Rechtsextremismus, sondern die Wiedergeburt der alten kommunistischen Machtausübung die wahre Gefahr sei.

Genau das Gegenteil davon ist wahr. Rechtsex­tre­me und antisemitische Parolen sind es, die in der Gesellschaft immer größeren Zuspruch finden. Die Organisation B’nai B’rith veröffentlichte Mitte November eine Untersuchung zu Antisemitismus in Ungarn im Zeitraum 2004/2005. Fünf Prozent der Ungarn können als überzeugte Antisemiten bezeichnet werden, 25 Prozent mögen keine Juden, heißt es im Vorwort. Besorgniserregend sei, dass besonders viele Studenten antisemitisch und rassistisch seien.

Die Fidesz hat, hoffend auf einen Wahlsieg, die radikal rechten Wähler an sich gezogen. Der rechtsextremistische Pöbel erhält natürlich kei­ne Anweisung von Orbán, aber dieser – der die Parlamentswahlen in den Jahren 2002 und 2006 verloren hat – stellte nach jeder Niederlage die Machtfrage und kann sein politisches Überleben nur durch das Schüren von Unruhen und weitere Polarisierung sichern.

Orbán war Mitbegründer einer Fachhochschule, die nach dem Soziologen István Bibó benannt wurde. Dieser konnte in Wien als Student den Anschluss an NS-Deutschland be­obachten und schrieb 1942 ein Buch darüber für die Schublade. Seine Beschreibung der politischen Hysterie, wie sie heute von Orbán geschürt wird, ist immer noch aktuell. »Die hysterische Gemeinschaft ist unfähig, die Ursache für ihre Probleme und Misserfolge in der normalen Verkettung von Ursache und Wirkung aufzuspüren. Sie sucht für alle ihre Probleme Erklärungen, die gemessen am nüch­ternen Verstand und an den nüchternen Fakten offensichtlich falsch sind«, erläuterte Bibó.

Über 60 Jahre später berichten Beobachter der Demonstrationen in Ungarn von einer »hysterischen Stimmung« und auch davon, dass antisemitische Bücher verkauft wurden, wie eine ungarische Monatszeitschrift dokumen­tierte. Dieser Tage hält zudem der US-Rechtsextremist, Antisemit und ehemalige Ku-Klux-Klan-Chef David Duke Vorträge in Ungarn, um für sein ins Ungarische übersetzte Buch »Jüdischer Herrschaftsanspruch« zu werben.

An den Demonstrationen in den vergangenen Monaten nahmen auch so genannte Antiimperialisten teil, die nun offen eine Querfront propagieren: »Das ehemalige Schema Links-Rechts hat seinen Sinn also verloren – falls es einen überhaupt hatte. Jetzt befinden sich Trotzkisten, Marxisten, Globalisierungsgegner, sozial gesinnte Katholiken, Ethnopluralisten [sic!] und Nationalisten im gleichen Lager: im Lager des Kommenden. Und, hoffentlich, im Lager des Siegenden«, kann man auf der Website www.antiimperialista.org lesen.

Die Pläne von Orbán gingen allerdings nicht auf. Bereits als Gyurcsány sich einer Abstimmung im Parlament gestellt hatte, war es klar, dass die linksliberale Regierung nicht daran denkt, wegen Straßendemonstrationen zurück­zutreten. Vorläufig hat die Querfront eine Niederlage einstecken müssen, bei der letzten Demonstration Anfang November konnte sie nur 500 Menschen zusammenbringen.

Demonstrationen und Interessenvertretung sind in einer Demokratie legitim. Das Schüren der politischen Hysterie ist aber gefährlich.