Amok ist keine Trendsportart

Einzelfälle wie der Amoklauf des Sebastian B. in Emsdetten taugen nicht, um die Gesellschaft zu erklären. von ivo bozic
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Man kann am Leben verzweifeln. Jede und jeder kann das. Über 10 000 Menschen bringen sich jedes Jahr in Deutschland selber um. Egal, was jeweils letztlich ausschlaggebend war, die Frage nach dem Sinn des Lebens wird sich jedem einzelnen von ihnen gestellt haben. Denn das ist eine Frage, die jedem im Leben begegnet und die niemand zufriedenstellend beantworten, deren Leerstelle man allerdings je nach sozialer Lage oder religiöser bzw. ideologischer Selbstversicherung schlechter oder besser ertragen kann.

Amoklaufen scheint eine plausible und angemessen wahnsinnige Reaktion auf den Wahnsinn des Lebens zu sein. Aber ist es eine Antwort auf Hartz IV? Sicher ist: Als der Farmer Andrew Kehoe am 18. Mai 1927 morgens nach dem Aufstehen zuerst seine Frau tötete und seine Farm in Brand setzte, dann in einer Schule in Michigan zwei Sprengsätze mit jeweils 230 Kilo Dynamit platzierte und schließlich während der Rettungsarbeiten mit seinem mit Metallteilen gefüllten Auto vor die Schule fuhr und sich selbst und 45 Schüler und Lehrer in die Luft sprengte, war er zwar hoch verschuldet, aber Peter Hartz kann dafür nicht verantwortlich gemacht werden.

Auch sonst finden sich in der Liste bekannter Amokläufer zwar einige Menschen, die finanziell in der Klemme steckten oder einen sozialen Abstieg erleben mussten, doch die Schlussfolgerung, dass die Verzweiflung über die eigene Armut oder verwehrte Anerkennung die Bereitschaft zum Amoklauf erhöhe, lässt sich statistisch nicht belegen, selbst wenn bei vielen Amokläufern eine so­ziale Demütigung als Motiv mit im Spiel ist.

Doch es gab und gibt immer Millionen, denen es schlechter geht als jenen, die sich zum Amok-Suizid entschließen. Amoklaufen ist eben keine neue Trendsportart. Nähme jeder von Hartz IV Betroffene und jeder perspektivlose Schüler das Schicksal dergestalt in die Hand wie Sebastian B. oder Robert Steinhäuser, wäre die Welt ein einziges Blutbad. Die Frage ist doch ganz einfach: Wenn die Ausschlussmechanismen dieser Gesellschaft, wenn die soziale Perspektivlosigkeit Ursache des Amoklaufs sind, warum läuft dann nicht die ganze Unterschicht Amok?

Das Gerede von der fehlenden Anerkennung, den tragischen sozialen Umständen, ist dieselbe Täter-Opfer-Verdrehung, mit der man NPD-Wählern und Nazikids so gerne ihren Rechtsextremismus entschuldigt oder »ostdeutschen Krisenopfern« ihren Antisemitismus, wie 1997 in Gollwitz. War vielleicht der Zweite Weltkrieg nicht auch ein großer Amoklauf Hitlers, dem man die internationale Anerkennung verweigerte? Müssten nach dieser Logik nicht hier und heute Ausländer, die einen Job nur dann bekommen, wenn ihn kein Deutscher will, Flüchtlinge, die in ihrem Wohnheim auf die Abschiebung ins Elend warten, müssten nicht sie Amok laufen?

Fest steht, man kann arbeitslos werden oder einen unerfreulichen Minijob ausüben wie Sebastian B. und trotzdem nicht Amok laufen. Das und nur das ist die Regel. Die Prozentzahl der Hartz-IV-Opfer, die zu Amokläufern werden, hat eine Null vor und viele weitere Nullen hinterm Komma. Alles andere, als von Einzelfällen zu sprechen, ist daher unangebracht. Freerk Huisken beschrieb in der letzten Aus­gabe der Jungle World (48/06) das vermeint­liche oder auch tatsächliche Problem des Emsdetter Täters wie folgt: »Wenn ich mir schon nicht mit Geld, Handys und Klamotten jene Anerkennung verschaffen kann, die mir zusteht, lautete seine Devise, dann muss ich eben den Menschen in der Schule auf andere Weise zeigen, dass ich kein Versager bin.« Huis­ken will damit offenbar indirekt die gesamte so genannte Unterschicht als potentielle Amokläufer beschreiben, die jederzeit durchdrehen könnten. Doch können sich die Troublemaker-Mädchen an der Rütli-Schule, die Nazikids vor dem Ostberliner Plattenbau und die kleinen Gangster-Jungs aus der Wrangelstraße kein Handy leisten und keine Markenklamotten? Im Gegenteil. Wenn sie auch sonst kein Geld haben, dafür haben sie es. Die 14jährigen mit ihren ausschließlich nach Status statt nach Zweckmäßig­keit ausgesuchten Hosen, Schuhen und Jacken versenden an einem Tag mehr SMS mit ihren neuesten Handys als mancher Universitätsprofessor in einem Jahr. Fehlte es Sebastian B. an einem Handy? War es nicht vielmehr so, dass er, der als 18jähriger immerhin ein eigenes Auto besaß, sein Erspartes für Com­puter, Waffen und Militärklamotten ausgab?

Auch ein anderer Aspekt spricht gegen die These der fehlenden sozialen Anerkennung als Erklärung für eine Amok-Tat. Weitaus weniger Anerkennung und schlechtere soziale Perspektiven haben Mädchen und Frauen gegenüber Jungs und Männern. Doch weibliche Amokläuferinnen sind eine zu vernachlässigende Ausnahme – erst recht angesichts ihrer proportional größeren sozialen Benachteiligung und angesichts der Tatsache, dass Frauen weit häufiger (allerdings auch weit erfolgloser) als Männer Suizidversuche unternehmen.

Aber wenn man den Täter von Ems­detten nicht zum Opfer der sozialen Krise umdeuten mag, muss die Ur­sache seines Amoklaufs dann vielleicht doch in seiner Leidenschaft für Computer-Ballerspiele gesucht werden? Möglich. Möglich auch, dass es trotz objektiver Unverhältnismäßigkeit subjektiv seine sozialen Umstände waren, die ihn dazu führten. Doch es ist egal, ob es sein soziales Standing, sein Faible für Ego-Shooter oder sein verkorkstes Sexualleben war, denn es ändert nichts daran, dass Sebastian B. ein Einzelfall ist. Auch unter den Ego-Shooter-Spielern und unter den Frustrierten sind die Amok­läufer eine verschwindend geringe Minderheit.

Diskutiert wird gerne auch über die Frage, ob nicht die Schulen das Problem darstellen, weil überproportional häu­fig in Schulen – und nicht etwa in Arbeitsagenturen – Amokläufe stattfinden. Sind die Schulen so grausam, verwehren sie den Kindern und Jugendlichen die ihnen zustehende Anerkennung und produzieren so massenhaft Verlierer? Ja! Aber war das jemals anders? Wie viele unserer Groß­väter, denen man eine Eselsmütze auf­setzte, die man gezielt demütigte, denen man vor der versammelten Klasse mit dem Rohrstock auf die Hände schlug, haben in der Schule ein Blutbad angerichtet? Schulen sind grausam, sehr grausam, aber wohl nie waren sie so wenig grausam wie heute. Und ist die Aussicht eines Hauptschülers, später keinen Job zu finden, wirklich so viel entsetzlicher als jene anderer Tage, nach der Schule 40 Jahre im Schacht nach Kohlen zu graben oder am Fließband Autotüren zu ver­schwei­ßen?

Wer die Gesellschaft für Einzelfälle wie den von Emsdetten in die Pflicht nehmen will, der könnte, das läge doch nahe, den Drill eines zweijährigen Militärdienstes fordern: raus aus der Anonymität der Cyberwelt, Schluss mit der Vereinzelung und Individualisierung, hinein in die Gemeinschaft, weg mit den sozialen Statussymbolen wie Handy und Markenjeans, ein festes Einkommen, eine Unterkunft, Verpflegung. Nein! Selbst wenn die Gesellschaft solche Einzelfälle verhindern könnte, was stark bezweifelt werden muss, gilt zu bedenken, welchen Preis der Freiheit man dafür zahlen soll.

Trotzdem wäre es zu einfach, Amok-Täter, wie übrigens jeden anderen Mör­der auch, ausschließlich selbst für ihre Taten verantwortlich zu machen. Das sind sie zwar in erster Linie, weil sie in der Regel selber eine Entscheidung treffen, die andere in vergleichbarer Situation eben nicht treffen. Doch selbstverständlich findet das nicht außerhalb eines gesellschaftlichen Rahmens und einer gesellschaftlichen Prägung statt. Doch mehr als Spekulation kann angesichts der statistischen Marginalität von Amokläufen nicht dabei herauskommen. Fördert der Verlust an kollektiven Identitäten das heroische Einzelgängertum? Liefert diese Gesellschaft ein Männerbild, in dem Gnadenlosigkeit und Willkür als positive Werte stark gemacht werden? Führt der Verlust von familiärem Zusammenhalt oder die »Eigenverantwortung« genannte Individualisierung des Kapitalismus dazu, dass man in einer ausweglosen Situation – anstatt sich an Institutionen und soziale Gruppen zu wenden – selbst zum Vollstrecker wird? Spielen politische Vorbilder wie etwa islamistische Märtyrer-Attentate bei der Heroisierung des Mord-Suizides eine Rolle? (Immerhin hinterließ auch Sebastian B. ein in solchen Kreisen beliebtes Video-Testament.) Senkt die Verbreitung rassistischer und xenophober Menschenbilder die Hemmungen, Menschen­leben auszulöschen? Wird in einer globalisierten, multipolaren Welt ohne positive Bezugsgrößen und mit einer immer mehr durch körperliche Distanz geprägten elektronischen Kom­munika­tion die Vereinzelung als bedrückender wahrgenommen? Und selbstverständlich auch: Führt die soziale Prekarisierung, die wachsende Existenzangst, das Misstrauen in die Perspek­tiven der eigenen Erwerbsbiografie zu dem Gefühl der ausweglosen Verzweif­lung?

Das sind alles berechtigte Fragen. Ihre Beantwortung ist wichtig für die Zukunft der Gesellschaft. Um Einzelfälle wie den von Emsdetten zu erklären, sind sie jedoch völlig untauglich. Und vor allen Dingen: Kein Umstand, keine soziale Situation, keine ideologische oder religiöse Verblendung, weder Drogenkonsum noch die Ratlosigkeit über den Sinn des Lebens kann einem Mörder die Verantwortung für seine Tat nehmen. Egal, wie schuldig die Gesellschaft ist.