Vor dem großen Sturm

Die türkische Gesellschaft hat viele Probleme und Fragen zu klären. Doch es herrscht Ungewissheit darüber, wie es weitergehen soll. Antworten scheinen nur die Nationalisten zu geben. von ömer laçiner, istanbul

Nie zuvor in ihrer Geschichte, nicht einmal in den Tagen, die den Machtergreifungen des Militärs vorausgingen, befand sich die Türkei in einem solchen Zustand der Ungewissheit. Selbst bei jenen, die genau zu wissen vorgeben, wohin der Weg führen soll, ist spürbar, dass auch sie nicht allzu sehr auf die Richtigkeit ihrer Ansichten vertrauen. Mag nach außen auch der Eindruck entstehen, dass im Land halbwegs Ruhe herrscht, so erkennen nicht wenige Menschen in der Türkei in dieser Ruhe nur die Ruhe vor dem Sturm.

Diese Ungewissheit erfasst die gesamte Gesellschaft, die politischen Gruppen und Institutionen ebenso wie die Individuen. Ungewiss ist zum Beispiel, ob die Europäische Union die Türkei wirklich als Mitglied in ihren Reihen sehen möchte. Ungewiss ist aber auch, ob die Türkei der EU überhaupt beitreten möchte. Ungewiss ist, ob die politisch Verantwortlichen aufrichtig gewillt sind, eine demokratische Lösung für den Kurdenkonflikt zu finden. Fraglich ist ebenso, ob die politischen Repräsentanten der Kurden an einer Lösung innerhalb der existierenden territorialen Grenzen interessiert sind.

Angesichts der Tatsache, dass die ruppigen Äußerungen eines Generals oder eine Zinserhöhung der amerikanischen Notenbank genügen, die Märkte im Dreieck springen zu lassen, ist es sogar ungewiss, ob sich die türkische Wirtschaft, die wächst, ohne neue Beschäftigung zu schaffen, tatsächlich auf einem so guten Weg befindet, wie es die Daten vermuten lassen könnten.

Ungewiss ist auch, welchen Prinzipien und Werten sich die Gerichte dieses Landes verpflichtet fühlen, wenn man bedenkt, dass sich einerseits Staatsanwälte finden, die Strafverfahren gegen Romanfiguren eröffnen (wie es im Prozess gegen die Schriftstellerin Elif Safak der Fall war), dass sich ein Kassationsgericht darüber auslässt, wie viel Ironie die Bevölkerung versteht, und auf dieser Grundlage Urteile fällt (wie im Prozess gegen den Journalisten Hrant Dink geschehen), und dass es andererseits Richter gibt, die Verfahren zurückweisen, die denunziatorische Bürger wegen missliebiger Meinungsäußerungen anstrengen wollen. Ungewiss ist, wie sich Polizisten, die das eine Mal, anstatt gegen eine lynchwütige Menge vorzugehen, die Demonstranten festnehmen, die sich nur mit Mühe vor dem Lynchmord retten können, und die ein anderes Mal gegen eine lynch­wütige Menge einschreiten und deren Zorn auf sich ziehen, beim nächsten Lynchversuch verhalten werden.

Ungewiss ist natürlich auch, wie die Mehrheit in unserer Bevölkerung über solche Selbstjustiz denkt. Überhaupt ist die Flatterhaftigkeit des Souveräns bemerkenswert: Bei jeder der fünf Wahlen in den vergangenen 20 Jahren haben die Wähler eine andere Partei an die erste Stelle befördert, um einige von ihnen schon bei der folgenden Wahl unter die Zehnprozenthürde fallen zu lassen, manche sogar unter eine Marge von zwei Prozent. Dieses, wenn man so will, äußerst flexible Wahlverhalten lässt schwer erahnen, was die Mehrheit der Bevölkerung eigentlich will und welcher Partei sie sich beim nächsten Mal zuwenden wird. Sprachen sich noch vor ein, zwei Jahren über 70 Prozent der Bevölkerung für einen EU-Beitritt aus, ist diese Zahl inzwischen auf deutlich unter 50 Prozent gefallen. Dieser Trend hält an, aber es ist wiederum ungewiss, welche politischen Auswirkungen er haben wird.

Da wir beim Thema Lynchen waren: Können wir mit Bestimmtheit sagen, dass unsere Bevölkerung Besonnenheit zeigen würde, falls es in Großstädten zu ähnlichen Vorfällen kommen sollte, wie in den letzten Monaten in einigen west- und nordanatolischen Provinzen, wo nur um Haaresbreite größere ethnische Ausschreitungen verhindert werden konnten? Und wer ist für die Bomben verantwortlich, die jüngst in der wegen ihrer gemischten Bevölkerung sehr für Eskalationen prädestinierten Stadt Mersin und in anderen ostanatolischen Städten explodierten? Militante aus der PKK oder Banden aus der Konterguerilla? Resultieren die Morde im Umfeld der Ismail Aga aus Konflikten innerhalb dieser fundamentalistischen Sekte, oder wurden sie von Kräften begangen, die dadurch eine Debatte über eine »islamistische Bedrohung« anzuzetteln trachten, von der sie zu profitieren hoffen?

Wir wissen es nicht. Wir wissen aber, dass eine solche bleierne Ungewissheit gemeinhin das Symptom einer tiefen Krise ist, ebenso wie der Umstand, dass sich sämtliche Probleme miteinander verkettet haben und allesamt dringend nach einer Lösung verlangen.

Doch üblicherweise existieren bei solchen Krisen zwei Fraktionen, die recht genaue Vorstellungen haben, wie die Lage zu meistern wäre, so dass die Ungewissheit nicht daher rührt, dass niemand wüsste, was zu tun ist, sondern dass sich beide Blöcke gegenseitig lähmen. In reiferen Gesellschaften werden solche Konflikte dadurch gelöst, dass die Kontrahenten zu einem Kompromiss finden. Oder es finden Wahlen statt, die eine eindeutige Entscheidung herbeiführen. In Gesellschaften, in denen noch eine militante Kultur vorherrscht, kann es zu einer gewalttätigen Konfrontation kommen. In beiden Fällen aber ist sich jeder Einzelne, der sich in einen der Blöcke einreiht, mehr oder minder darüber bewusst, was von einem Sieg seiner Partei zu erwarten ist und auf welche Weise die Entscheidung herbeigeführt wird.

Das ist in der Türkei anders. Weder gibt es zwei feste Blöcke, die sich befehden, noch lässt sich sagen, auf welchem Wege die vorhandenen Konflikte verbindlich gelöst werden können und die Ungewissheit beendet werden kann. Zwar scheint sich ein nationalistischer Block herausgebildet zu haben, der auf fast alle Fragen geschlossen und klar zu antworten weiß. Aber es existiert kein Gegenüber, das mit derselben Entschiedenheit und Klarheit zu reagieren wüsste.

Zu diesem nationalistischen Block gehören kleinere und größere Gruppen, wobei seine rassistisch-faschistischen Derivate wie die ultrarechte MHP, die linksnationalistische Arbeiterpartei und die Zeitschrift Türk Solu (»Türkische Linke«) zuweilen am lautesten zu hören sind. Neuerdings schickt sich auch die sozialdemokratische CHP an, sich diesem Block anzuschließen, als dessen stärkstes Element die Armee gilt.

Doch die meisten Forderungen und Ansichten, die dieser Block mit der ihm eigenen nationalen Empfindlichkeit und mit reichlich nationalistischem Firlefanz vertritt, werden von fast allen anderen Parteien geteilt, allen voran von der regierenden AKP und der konservativen Anap. So entsteht scheinbar eine große gemeinsame Front, die keinen anderen Gegner findet als die überschaubare Zahl der linken und liberalen Intellektuellen, die als »Verräter« und »Feinde« gebrandmarkt werden können. Sofern es um kurdische Belange geht, gesellen sich zu diesen »Feinden« weitere hinzu, nämlich die PKK und die prokurdische DTP.

Und doch entsteht aus diesem vermeintlichen nationalistischen Block keine dauerhafte Front, weil nicht alle seine Kräfte gewillt sind, sich bei sämtlichen Fragen in gleichem Ausmaß an nationalistischen Kriterien zu orientieren. Zugleich gelangen die Nationalisten immer wieder an einen Punkt, der sie die Konsequenzen ihrer eigenen Politik scheuen und sie innehalten lässt. So sagen auch jene, die an jedem einzelnen Aspekt einer EU-Mitgliedschaft entschieden Kritik formulieren, nicht ausdrücklich, dass sie einen Beitritt ablehnen. Sicher gibt es auch solche Leute, aber all jene, die »verantwortungsvolle« Positionen innehaben, und die Mehrheit derer, die sie dort hingebracht hat, gehen nicht über ein »wir wollen in die EU, aber …« hinaus.

Nun gibt es innerhalb des nationalistischen Blocks Gruppen wie die Arbeiterpartei oder Türk Solu, die sich durch ihren reaktionären Übereifer zu profilieren versuchen. Und es gibt die extremsten Elemente des türkischen Nationalismus, deren Diskurs bis zum Äußersten geht. Doch sind diese Gruppen innerhalb ihres Blocks marginal. Und in Ermangelung eines vergleichbaren Gegenübers einschließlich eines vergleichbaren radikalen Teils begnügen sie sich bislang damit, gelegentlich zu kläffen und zu bellen.

Hinzu kommt, dass völlig unklar ist, auf welche Weise die Ungewissheit beendet und wie auch immer geartete Entscheidungen herbeigeführt werden sollen. Das gilt nicht nur für die offizielle Politik, sondern auch für den Alltag der Menschen. Denn so zahlreich die gesellschaftlichen Konflikte sind – Konflikte zwischen Lebensstilen, ethnische und konfessionelle Konflikte usw. –, vermögen die Parteien nur sehr bedingt, die Gruppen und Gemeinschaften, die sie repräsentieren, auch zu lenken. Folglich könnten sich diese Spannungen jederzeit und ohne das Zutun der Parteien zu einem beliebigen Anlass gewaltsam entladen. In der Türkei spürt jeder diese Gefahr. Und jeder weiß, dass es wahnsinnig wäre, sich einen solchen Ausbruch zu wünschen.

In dieser Situation bleibt nichts anderes übrig, als eine Grundlage für eine Debatte und eine Entscheidungsfindung zu schaffen, die für einzelne Fragen zu begrenzten, aber verbindlichen Kompromissen führt. Was schon reifere Gesellschaften nicht einfach mal nebenher erledigen, ist umso schwieriger für unsere Demokratie, die trotz der Verbesserungsbemühungen der letzten Jahre eine behelfsmäßige geblieben ist: So viele Instandsetzungen am Rechtsstaat vorgenommen wurden, so viele neue Verunstaltungen wurden hinzugefügt; noch immer haben die Menschenrechte nicht wirklich Fuß gefasst und werden von vielen als »trojanisches Pferd« betrachtet.

So ist es bislang weder möglich, die Probleme und Konflikte in aller Offenheit und all ihren Dimensionen anzusprechen und über sie zu diskutieren, noch existiert die minimale Bedingung für Lösungen und Kompromisse, nämlich das Einvernehmen darüber, dass demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien sowie der Kodex von Rechten und Freiheiten unter allen Umständen peinlich genau einzuhalten sind. Für die politische Kultur der türkischen Gesellschaft waren diese Dinge nie eine große Referenz, und in der letzten Zeit haben sie sich auch abgenutzt. Verantwortlich für die Unzulänglichkeiten unserer politischen Kultur aber ist, neben unserer Staatstradition, mittelbar oder unmittelbar der Nationalismus.

Wenn es uns nicht gelingt, eine Front gegen den Nationalismus zu formen und seinen inhumanen Werten Freiheit und Menschenrechte entgegenzuhalten, wenn wir, unabhängig von den Aussichten eines solchen Unterfangens, nicht einmal die Notwendigkeit dafür begreifen, werden wir auf diesem immer nebulöser werdenden Weg keine allzu lange Strecke mehr zu gehen haben.

Ömer Laçiner ist Chefredakteur der gesellschaftskritischen Monatszeitschrift Birikim. Der Beitrag erschien zuerst in der Birikim und wurde für die Jungle World übersetzt und redaktionell bearbeitet.