Aufschwung ist wie Ecstasy

Wie passen die Katastrophenmeldungen dieses Jahres und die gute Laune, die Wirtschaft, Politik und Medien seit einiger Zeit verbreiten, zusammen? Besinnliches von felix klopotek

Ach, 2006. Das war doch das Jahr, in dem spe­kuliert wurde, ob es wohl einen Zusammen­hang zwischen der Seuchengefahr und dem Streik im öffentlichen Dienst gebe. Ein Jahr, in dem die Bundeskanzlerin ihrer Führungsrolle nicht ge­recht wurde und die Große Koalition sich selbst blockierte, die Volksparteien weiter an Mitgliedern und Wählern verloren, im Osten die braunen Hor­den tobten und im Westen die Großstädte zu einem einzigen Integrationsproblem verkamen. Es gab dreiste Krankenhausärzte (drei Monate Streik!), dreiste Berliner (fordern mehr Geld von Bund und Ländern!), dreiste Schüler (Rütli!). Und eine neu entdeckte, apathische, an allem desinteressierte und sowieso ungebildete »Schicht«: die Un­terschicht, das abgehängte Prekariat. Kein schönes Jahr.

Denkste! »Boom, Boom, Deutschland« lautete am 12. Dezember die Topmeldung auf Spiegel on­line, »Wundersame Welt des Aufschwungs« hieß es in der Zeit, »Endlich Arbeit«, brüllt seit Wochen die Bild-Zeitung. Die Konjunktur ist angesprungen, das von Politik und Kapital als satisfaktionsfähig angesehene Kieler Institut für Weltwirtschaft korrigiert die Wachstumszahlen nach oben – 2,1 statt ein Prozent. Prognostiziert wird ein Wachstum über das Jahr 2007 hinaus, und dass die Arbeitslosigkeit von 8,2 Prozent (aktueller Jahresschnitt) auf 7,2 Prozent (Jahresschnitt 2008) sinken werde. Das Jahr klingt nicht nur versöhnlich aus, die Katastrophenmeldungen scheinen verdrängt, im Rückblick wirken so manche Probleme geradezu lächerlich: Große Koalition? Ihre Akzeptanz in der Bevölkerung wächst. Gewerkschaften? Dürfen in der nächs­ten Tarifrunde wieder kräftig zulangen. Integra­tions­­krise, Rechtsextremismus, Bildungsmisere? Die Politik hat verstanden und nimmt die Probleme in Angriff.

Geht man bloß nach dem Ablauf der Ereignisse, muss man sich an den Kopf fassen. Ist Gehirnwäsche so einfach? Ein Wirtschaftsinstitut veröffentlicht ein paar hübsche Zahlen, ein Leitartikler lobt die Bundesregierung, und die Reporterschar von Bild und Spiegel bauscht die Scharmützel im Kreuzberger Wrangelkiez doch nicht zum Untergang der abendländischen Zivilisation auf, dann machen Beckmann, Jauch und Kerner noch gefühlige Shows, so genannte Jahresrückblicke – und die Sache sitzt, alle sind zufrieden.

Die absolute politische Anspruchslosigkeit der bürgerlichen Öffentlichkeit kommt hier zum Ausdruck, die sich strukturell kaum vom Desinteresse der Unterschicht unterscheidet. Das »abgehängte Prekariat« guckt Astro-TV, während »Leistungsindivi­dualisten« und »kritische Bildungselite« eine Mischung aus Konjunkturdaten-Voodoo, Suhrkamp-Klatsch und FAZ bevorzugen. So what? Politische Anspruchslosigkeit und die per­ma­nente, souveräne Selbstentmündigung des Bürgertums – das sich Freigeistigkeit allein in Wirtschaftsdingen erlaubt, dort aber unbedingt – gehören hierzulande zum Erbe des Faschismus. Von einem postfaschistischen Sozialpakt kann man nicht sprechen, aber von einem postfaschistischen Politpakt. Sein Axiom lautet: Grund- und Bürgerrechte sind prima, müssen aber in erster Linie vor sich selbst geschützt wer­den; Meinungsfreiheit ist großartig, und weil das so ist, äußern wir am besten gar nicht erst unsere Meinung, denn das könnte die Meinungsfreiheit gefährden.

So herrscht in den freien und selbstverständlich kritischen Medien Amnesie. Nein, Amnesie ist falsch, und es gibt auch keinen Masterplan der Manipulation. Nur wer zwischen den übers Jahr verstreuten Katastrophen­meldungen und der penetrant guten Laune von Politik und Medien einen Zusammenhang kon­struiert, kommt ins Grübeln.

Was würde es bedeuten, gäbe es keinen? Gäbe es einen, müsste man den Medien fortwährenden Aufklärungsverrat vorwerfen, eine gigantische Verschwörung. Die Entlarvung wä­re sim­pel und übrigens auch eine prima Ge­schäfts­­idee, denn in Nachrichtenmagazinen oder Fern­sehsendern fände man bestimmt dankbare Abnehmer. Ganz im Gegenteil gilt die Ver­pflichtung zur »objektiven Berichterstattung«. Die entdeckt jeden Tag aufs neue eine Welt aus Nachrichten und Fakten und richtet sie her nach der obersten Maßgabe, die kein Politiker einem Redakteur einhämmern muss: dass es Meinungsfreiheit nur unter der Bedingung ihrer Folgenlosigkeit und in der Form ihrer Selbstverhinderung geben kann.

Die gute Laune zum Jahresende? Der nächste Katzenjammer in drei Monaten? Das ist in erster Linie business as usual. Aber nicht nur. Es ist ja tatsächlich Politik gemacht worden, Entscheidungen wurden getroffen, Urteile gefällt. Damit sind zwar noch lange keine sozialen Pro­bleme gelöst, aber darum geht es auch gar nicht. Bürgerliche Politik wird nicht betrieben, um Probleme zu lösen, etwa in dem ganz schlichten Sinne, dass arbeiterfeindliche Strukturen in der Gesellschaft bekämpft würden.

Politik beschäftigt sich damit, ihre Klientel, die Bevölkerung eines Staats, in Schach und also für den Dienst am Kapital tauglich zu halten. Natürlich ist bürgerliche Politik im hohen Maße experimentell, selbst da, wo sie vorausschauend zu planen meint: Die Hartz-Gesetze hätten scheitern und die Große Koalition hätte sich bereits im Sommer zerfleischen können. Es gibt keine Erfolgsgarantie – die Freiheit zum Scheitern, das ist der einzige Gehalt des politischen Freiheitsversprechens des Bürgertums –, aber ein Korrektiv, und das sind nicht zuletzt die Medien.

Jede politische Entscheidung, die dieses Jahr getroffen, jedes Urteil, das gefällt wurde, schichtet die Leute nur anders um. Dazu zwei Beispiele, ein umfassendes und eines, das einer bitteren Anek­dote gleicht, aber umso aussagekräftiger ist.

Zunächst die Debatte um die Unterschicht. Aller­hand wurde unter den Begriff gefasst: randalierende Schüler, entwurzelte Ostdeutsche, nicht integrierte Migrantenkids, Kinder, die Armut und soziale Apa­thie von ihren Eltern erben, Hochschulabgänger, die nicht mehr aus dem Sumpf der Praktika und Projektjobs herauskommen. Es sind jeweils sehr unterschiedliche Menschengruppen, die potenziell oder tatsächlich zur Unterschicht zählen. An ihnen wird ausprobiert, inwiefern sie für eine künftige Indienstnahme durch Staat und Kapital tauglich sind.

Besonders schön lässt sich das an der Situation des akademischen Prekariats ablesen, das auf einem schmalen Grat zwischen Absturz und Elite schwankt. Angesichts der tendenziell steigenden Arbeitslosigkeit unter Akademikern haben sich auch die jungen Intellektuellen zu beweisen. Die Arbeitslosigkeit ist kein Skandal, vielmehr zeigt sich an ihr der Geschäfts(miss)erfolg einer hyperflexibilisierten und von einem aufregenden Projekt zum nächsten hetzenden Bohème. Der Druck, dem die (frühere) Elite in spe immer mehr ausgesetzt ist – nicht zuletzt wegen der Studiengebühren und einer unter neoliberalen Gesichtspunkten restrukturierten Hochschule –, übersetzt sich in permanente Selbstaktivierung. Diese aber verringert um keinen Deut die Abhängigkeit von kapitalistischen Sachzwängen, sie ist dieser Sachzwang in Aktion.

Den Menschen, die man »abgehängtes Prekariat« zu nennen sich angewöhnt hat, wird ihre Abhängig­keit vorgehalten, und zwar als komplette Untauglichkeit. Die Eltern gelten als »verloren«; »Rettet die Kinder!« hieß es daher in der Unterschicht­debatte im Herbst. Was das bedeutet, dürfte klar sein: eine Bildungspolitik, die in den Schulen noch mehr Anerkennungswahn (»Du musst dich bewei­sen!«) und Selektionsdruck (»Du musst dich durch­setzen!«) schaffen will. Geschenkt wird einem nichts. Wenn es demnächst ein »Existenzminimum für Bildung« geben wird (der Begriff tauchte tatsächlich auf), dann impliziert das, dass man damit auch Missbrauch betreiben kann und die Übeltäter dieses Minimums nicht für würdig befunden werden. Nebenbei, die Niederträchtigkeit, mit der bis­weilen den Empfängern von Hartz IV, die das ihnen zugestandene Existenzminimum ein wenig nach oben manipulieren wollen, hinterhergeschnüf­felt wird, hat darin seinen Grund: Wem ein Recht zugestanden wird, der wird auch darauf verpflich­tet.

Wenn die Politik den Leuten »da unten« eine Chance gibt, die sie aber nicht nutzen (egal, ob sie diese nicht nutzen können, weil es auf dem Arbeits­markt keinen Bedarf an ihren Diensten gibt, oder nicht nutzen wollen, weil sie sich etwas Schöneres vorstellen können als ein vom Staat vorgegebenes Leben, und sei es auch noch so »chancenreich«), dann gilt: selber schuld!

Das zweite Beispiel ist eine Anek­dote zum jüngst eingeführten Anti­diskriminierungsgesetz, korrekter: zum allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG), die vorige Woche auf Spiegel online zu finden war. Sie ist gleich in doppelter Hinsicht exemplarisch, denn sie demonstriert die Wirkung eines Gesetzes und die spezifische mediale Aufmerksamkeit, die es erheischt.

»Das Gesetz gegen Diskriminierungen wirkt – doch ganz anders als gedacht«, hebt der Artikel an. »Unternehmen klagen über Abzocker, die sich das Regelwerk zunutze machen. Für schutzbedürftige Minderheiten dagegen haben sich die Bedingungen nicht verbessert.« Die Schwierigkeiten werden erläutert, an denen das Gesetz praktisch scheitere: »Juristen durchforsten Firmenbroschüren und Stel­lenausschreibungen nach neuerdings illegalen Formulieren wie ›junges Team‹ (Diskriminierung von Älteren) oder ›Bewerbung bitte mit Lichtbild‹ (Dis­kriminierung wegen Rasse oder Herkunft)« und verschicken Abmahnungen an die Firmen.

Auch die Bewerber können davon profitieren: Wer sich als Mann auf eine Stelle als Sekretärin bewirbt und nicht zum Bewerbungsgespräch einge­laden wird, weil die Stellenausschreibung sich exklusiv an Frauen richtet, kann sich diskriminiert fühlen und dagegen mit guten Erfolgsaussichten klagen. In Zukunft wer­den Firmen ihre Bewerbungsverfahren so ausrichten, dass sie einer Anfechtung nach dem AGG standhalten: »Aus Sorge, in eine juristische Falle zu tappen, haben viele verunsicherte Arbeitgeber die Regeln für ihr Rekrutierungsverfahren über­arbeitet. ›Die Mappen von Bewerbern mit Handicap werden gleich in der ersten Stufe aussortiert‹, sagt die Personalchefin eines ostdeutschen Mittelständlers.«

Richtig interessant wird es in dem folgenden Fall: »Zwölf Piloten klagen gegen die Lufthansa, weil sie mit Erreichen des sechzigsten Lebensjahres nicht mehr an den Steuerknüppel dürfen. Die zuständi­ge Gewerkschaft Cockpit ist schockiert – über die eigenen Leute. Bislang dachte man, die im Tarifvertrag fixierte Altersgrenze diene nicht nur der Flugsicherheit, sondern sei auch eine soziale Errungenschaft. Die Gewerkschaften treibt nun die Sorge um, auch die Tarifverträge in anderen Branchen könnten einer Überprüfung im Lichte des Gleichbehandlungs­gesetzes nicht standhalten. So könnten jüngere Arbeitnehmer etwa versuchen, gegen die oft üppigeren Urlaubs- und Lohnansprüche älterer Kollegen vorzugehen.«

Offensichtlich kommt niemand auf die Idee, das Gesetz umgekehrt zu nutzen und sich mehr Privilegien zu erstreiten, etwa jüngere Kollegen die mi­ckrigen Vorzüge der älteren. Diese Idee wäre ja auch absurd, denn das Gesetz darf schließlich nicht den Geschäfts­erfolg eines Unternehmens dauerhaft beeinträchtigen. Wenn das AGG als tarif­politische Maßnahme eingesetzt wird, dann nur, um die Lasten unter den Beschäftigten anders aufzuteilen. Die Poin­te ist, dass es für Unternehmer günstiger sein könnte, ältere Arbeiter oder Angestellte zu mobben, als sie in den Vorruhestand zu schicken. Werden sie gemobbt, mögen sie klagen und kriegen nach der Anwendung des AGG ein Schmerzensgeld. Das ist billiger als eine Abfindung inklusive Vorruhestandsregelung.

Die Kritik, die die Autoren des Spiegel an dem Gesetz üben, ist einfach: Sie sehen lauter Schlampigkeiten, angerichtet von rot-grünen Gutmenschen, auf deren Regierungszeit das Gesetz zurückgeht. In der Politik, so die Botschaft, gibt es entweder ideologisch verblendete Dummerchen oder ehrliche Handwerker.

Was man darüber hinaus aus dem Artikel lernen kann: Das Gesetz ist nicht dazu da, gesellschaftliche Zustände zu beseitigen, unter denen Handicaps zu Diskriminierungen führen. Die Härten, mit denen sich Lohnabhängige und die, die es werden wollen oder müssen, kon­frontiert sehen, werden neu aufgestellt. Hat es sich beizeiten in der Praxis bewährt, was hier und da juristischen Hickhack um Abzocker­anwälte und Pseudobewerber erforderlich macht, ist das AGG ein Instrument, um politisch höchst korrekt Spaltungen in der Belegschaft noch wirksamer aufrecht zu erhalten. An diesen neuen Fakten orientiert sich dann eine zukünftige Arbeitsmarktpolitik.

Was bedeutet das alles im Hinblick auf die gute Laune zum Jahresende? Weder sollen die guten Nachrichten vom jüngsten Wirtschaftsboom verdecken, was es dieses Jahr an innenpolitischen Schreckensmeldungen gegeben hat, noch lautet ihre Botschaft, mit dem »Aufschwung« seien irgendwie auch alle anderen Probleme kleiner geworden oder gar gelöst.

Dafür zeigen sich die Ergebnisse der poli­tischen Entscheidungen der Vergangenheit. Jetzt herrscht ein Geschäftsklima, in dem sich die neu geschaffenen »Schichten« erst so richtig manövrieren lassen! Jetzt zahlt sich die politische Grundlagenarbeit – Sanktionen für die Un­willigen und Integrationsfaulen, Anreize für die Hochmotivierten – erst aus! Die gute Laune ist nicht (nur) gespielt und nicht (nur) wahnhaft, sondern fußt auf sehr realen Grundlagen: Die Entscheidungen sind getroffen, an die Arbeit!

Aber wo gearbeitet wird, kann auch gestreikt werden. So warnt das Kieler Institut für Weltwirtschaft bereits: »Der Aufschwung wird länger anhalten und stärker ausfallen, die Arbeitslosigkeit wird deutlicher sinken, wenn die Tarif­löhne auch in den kommenden Jahren nur in ähnlich geringem Ausmaß steigen wie in den vergangenen drei Jahren.« Es werden Wetten angenommen: Wie vieler Streiks bedarf es, um die gute Laune dauerhaft zu trüben?