Ausgemustert, abgehakt

Immer weniger europäische Politiker wollen die Türkei in der EU sehen. Was sind die Gründe? von deniz yücel

Vielleicht ist es ein Irrtum zu glauben, dass sich Politiker immerzu genau darüber im Klaren seien, was sie tun, dass sie stets geheime Masterpläne verfolgen, die gut bezahlte skrupellose Polittechniker in irgendwelchen zwielichtigen think tanks ausgeheckt haben. Vielleicht wird im Kabinett oder auf einem Gipfeltreffen schon mal etwas beschlossen, um es endlich vom Tisch zu bekommen und beizeiten zu Tisch gehen zu können. Vielleicht gibt man mitunter einem zudringlichen Bittsteller nach, um ihn bloß loszuwerden. Vielleicht erweist man jemandem nur deshalb eine Gunst, weil man fürchtet, er könnte sich sonst völlig abwenden. Vielleicht erliegen Politiker bisweilen auch Anflügen von Übermut, Redseligkeit oder Frohsinn, die sie zu Dingen verleiten, an die sie sich am nächsten Tag, wenn der Rausch verflogen und der Kater da ist, mit zerknirschtem Bedauern erinnern und die sie um fast jeden Preis ungeschehen machen wollen. Normalen Menschen passieren solche Dinge. Wer kann garantieren, dass Politiker, und zwar nicht nur als Privatpersonen, sondern auch in der Aus­übung ihrer Ämter, sich nicht zumindest ab und zu so verhalten wie normale Menschen?

Wenn man danach fragt, warum auf Seiten der Europäischen Union der Ton gegenüber der Türkei unübersehbar rauer wird und immer mehr verantwortliche Politiker sich offen gegen einen Beitritt aussprechen, wenn man also wissen will, was sich in Europa in den vergangenen sieben Jahren, zwischen dem Dezember 1999, als auf dem Gipfel von Helsinki beschlossen wurde, die Türkei als Beitrittskandidatin anzuerkennen, und dem Gipfel in Brüssel in der vergangenen Woche, auf dem beschlossen wurde, die Beitrittsverhandlungen teilweise auszusetzen, verändert hat, sollte man in Erinnerung behalten, dass möglicherweise schon die Entscheidung von Helsinki nicht unbedingt aus wohlberechneter Überlegung erfolgte, sondern irgendwie infolge irrationaler Empfindungen getroffen wurde.

Gleichwohl hat sich seither in Europa tatsächlich einiges getan, das sich auf den Umgang mit der ewigen Kandidatin Türkei auswirkt. Dass die rot-grüne Bundesregierung von einer von der CDU geführten abgelöst wurde, fällt noch am wenigsten ins Gewicht, wissen wir doch seit Joschka Fischer, dass es keine grüne Außenpolitik gibt, sondern nur eine deutsche. Seit der »Mikrofon-Affäre« um den dänischen Ministerpräsidenten Anders Fogh Rasmussen wissen wir von Fischer zudem, dass er der Meinung war, dass die Türkei »niemals Mitglied der EU sein« werde.

Wichtiger als die Regierungswechsel der vergangenen Jahre ist anderes – und es ist nicht Zypern, das nur ein willkommener Vorwand ist, hinter man sich verstecken kann. Stattdessen wäre etwas zu nennen, um das es auch in Helsinki ging: die gemeinsame »Verteidigungspolitik«. Ein halbes Jahr zuvor, im Krieg der Nato gegen Jugoslawien, war den Europäern vorgeführt worden, dass sie ohne die Hilfe der Amerikaner kaum dazu in der Lage waren, auch nur das nötige Kriegsgerät in Einsatzgebiete zu schaffen, die entfernter waren als der Oderbruch. So vermerkt das Protokoll von Helsinki unter Punkt 12: »Die Türkei ist ein beitrittswilliges Land, das auf der Grundlage derselben Kriterien, die auch für die übrigen beitrittswilligen Länder gelten, Mitglied der Union werden soll.« Unter Punkt 27 aber heißt es: »Der Europäische Rat unterstreicht seine Entschlossenheit, die Union in die Lage zu versetzen, autonom Beschlüsse zu fassen und in den Fällen, in denen die Nato als Ganzes nicht einbezogen ist, als Reaktion auf internationale Krisen EU-geführte militärische Operationen einzuleiten und durchzuführen.«

Für eine »autonome« Militärpolitik aber konnte es nur nützlich sein, die Türkei an die EU zu binden. Das Land liegt inmitten der Krisenregionen des Balkan, des Kaukasus und des Nahen Ostens, verfügt über eine erfahrene und bestens ausgerüstete Armee und ist in der Regel auch nicht zimperlich, wenn es darum geht, von militärischer Stärke Gebrauch zu machen.

Schon im Kosovo-Krieg hat sich die türkische Regierung, damals noch unter dem Ministerpräsidenten Bülent Ecevit, damit hervorgetan, dass sie als einziger der beteiligten Staaten dazu bereit war, Bodentruppen zu entsenden. Auch wenn dies gar nicht vonnöten war, um Serbien »in die Knie zu zwingen« (Klaus Kinkel), und der Welt das Schauspiel versagt blieb, türkische Soldaten für die Rechte von ethnischen Minderheiten in die Schlacht ziehen zu sehen, hat der Kosovo-Krieg die Europäer die Türken schätzen gelehrt.

Doch die Eingreiftruppe, die dem Beschluss von Helsinki zufolge innerhalb von drei Jahren einsatzbereit sein sollte, existiert bis heute nicht. (Sie ist nicht zu verwechseln mit der »European Union Force«, Eufor, die zuletzt im Kongo tätig war. Diese Truppe umfasst nur einige tausend Mann, darunter auch Soldaten aus Ländern, die nicht zur EU gehören. Und das sind nicht die ganz harten Jungs, die auch schon mal ohne Einladung irgendwo einmarschieren.)

Was aber kam dazwischen? Ganz einfach: Ein anderer Krieg. Im Jahr 2003, in dem der Aufbau dieser Truppe abgeschlossen werden sollte, kam es zum Irak-Krieg, der zu Verwerfungen innerhalb der EU führte, nicht nur zwischen dem »Alten« und dem »Neuen« Europa, sondern auch innerhalb der alten Mitgliedsstaaten. Seither ist an eine »gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik« der EU kaum zu denken. Damit aber ist der wichtigste Grund, der Türkei eine im Einzelnen wie auch immer geartete Mitgliedschaft anzubieten, hinfällig geworden. Keine EU-Armee, keine Türken.

Und noch etwas hat sich in Europa geändert: Das Scheitern des Verfassungsvertrags, der durch die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden verhindert wurde, hat den europäischen Politikern vorgeführt, dass die angestrebte »politische Einigung Europas« nicht gegen den Willen der Bevölkerungen durchzusetzen ist. Ein staatenähnliches Gebilde aber kann ohne ein homogenes Staatsvolk kaum funktionieren. Die Angst vor dem Wachmann genügt auf die Dauer nicht, um die Loyalität der Untertanen zu sichern; der Prolet und sein Chef brauchen den Glauben, etwas zu haben, das sie miteinander verbindet. Und in einem Europa, in dem schon sprachliche Hindernisse die Entstehung einer gemeinsamen Öffentlichkeit verhindern, stehen allzu viele Gemeinsamkeiten nicht zur Verfügung.

Am ehesten ist es noch »das christliche Abendland«. Daher mag Angela Merkels Vorschlag, im Frühjahr 2009 die Fortschritte der Türkei zu begutachten, ein durchschaubares Manöver sein, um mit dem Türkei-Thema in die Bundestagswahlen zu ziehen. Aber so abwegig und irrational, wie viele Linksliberale meinen, wäre ein kulturalistisch begründeter Ausschluss der Türkei keineswegs.

Die eigentliche Frage, von der auch die Türkeifrage abhängt, lautet, wie das Europa der Zukunft aussehen soll. Einiges deutet darauf, dass zwei nebeneinander existierende Rechtskreise geschaffen werden, nämlich die »Vereinigten Staaten von Europa« mit recht wenigen Mitgliedern einerseits und eine mehr oder minder ganz Europa umfassende, aber im Wesentlichen nur aus einem großen Binnenmarkt bestehende Europäische Union andererseits. Für den erlauchten Kreis war die Türkei ohnehin nie vorgesehen. Zum zweiten Kreis aber gehört sie dank der Zollunion, die sie als erster und einziger Staat bislang eingegangen ist, ohne ihr als Mitglied anzugehören. Diese Zollunion ist für die Türkei ein großes Verlustgeschäft und zwingt sie zudem, ihren Markt für Waren aus Zypern zu öffnen, obwohl die griechischen Zyprioten ihrerseits die Grenzen nicht wie versprochen für Waren aus dem Norden der Insel geöffnet haben. Warum die Türkei trotzdem auf diesen Deal eingegangen ist? Politiker machen so etwas manchmal.